Alle Rache Will Ewigkeit
»Das ist ja faszinierend«, hatte sie gesagt und sich an Charlies Rücken gekuschelt. »Wie sich dieser Instinkt des Typs ›Löwenmutter beschützt ihre Jungen‹ einschaltet. Corinna machte sich offensichtlich nicht allzu viele Gedanken um Jays mörderische Aktivitäten, solange es um anderer Leute Kinder ging. Doch kaum kommt ihre Tochter auch nur annähernd in die Schusslinie, ruft sie gleich die schwere Artillerie zu Hilfe. Was wirst du tun?«
»Ich bin unschlüssig«, hatte Charlie ausweichend geantwortet. »Einmal glaube ich, es geht alles auf Corinnas Paranoia zurück, dann tendiere ich wieder in die entgegengesetzte Richtung und meine, dass es tatsächlich zu viele Ungereimtheiten in Jays Vergangenheit gibt, die nicht alle Zufall sein können. Aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass diese charismatische, erfolgreiche Geschäftsfrau eine Serienmörderin sein soll.«
»Du wirst es also tun, nicht wahr?« Die Resignation in Marias Stimme war deutlich herauszuhören.
»Denkst du, ich sollte?«
»Ich habe darüber nachgedacht, während du weg warst. Einerseits möchte ich, dass du dich aus den Problemen anderer Leute heraushältst. Da will ich ganz ehrlich sein. Aber ich kenne dich, Charlie. Du brauchst etwas, worauf du deine Energie richten kannst, sonst wirst du dich selbst zerfleischen wie eine Ratte in der Falle.« Magda legte einen Arm auf Charlies Oberschenkel, eine tröstliche Geste der Bestätigung, die nichts Erotisches hatte. »Lass uns morgen darüber reden.«
Und das hatten sie auch getan. Immer wieder waren sie während des nächsten Tages darauf zurückgekommen und alle Möglichkeiten genauestens durchgegangen. Weil Maria mit keinem der Akteure persönlich bekannt war, vertraute Charlie ihrem Urteil. Maria wurde weder von einer gemeinsamen Vergangenheit mit Corinna noch von ihrer Sympathie für Magda oder der Neigung beeinflusst, Lisas Einschätzung von Jay Stewart Glauben zu schenken.
»Die Sache ist ja, dass es dir nicht gutgeht, wenn du keine Aufgabe hast, an der du dich abarbeiten kannst wie ein Hund an einem Knochen«, hatte Maria nach dem Abendessen abschließend festgestellt. Keine von beiden konnte sich richtig auf das sonntägliche Historiendrama in der BBC konzentrieren, was auch an der unglaublich albernen Inszenierung lag. Außerdem war das Drama, das sich am Rande ihres eigenen Lebens abspielte, wesentlich interessanter.
»Ich habe ja immer noch meine Lehrtätigkeit.«
»Das meine ich damit nicht. Deine wahre Berufung ist es, den wirklich komplizierten Fällen auf den Grund zu gehen. Du brauchst die Herausforderung. Wenn du das nicht hast, weißt du nicht, was du mit dir anfangen sollst. Für jemanden, der dich liebt, ist es nicht leicht, mit anzusehen, wie schlecht es dir geht, wenn du kein Problem hast, mit dem du dich herumschlagen kannst.«
Charlie schnaubte verächtlich. »Dank Bill Hopton hatte ich jede Menge Probleme.«
»Aber diese Art von Problemen meine ich nicht. Ich weiß, dass du versucht hast, deine Verteidigung vor der Ärztekammer abzufassen, aber das ist nicht die Art von Herausforderung, die dich in Topform hält. Du brauchst eher ein kompliziertes Knobelspiel. Etwas, das deinen Verstand fordert und deine Vorstellungskraft anstachelt. Das war doch schon immer so. Deshalb warst du so erfolgreich beim Profiling für die Polizei. Das waren Problemstellungen auf höchstem Niveau, und so etwas hast du nicht mehr getan, seit sie dir deine Fälle weggenommen haben. Das ist nicht gut für dich, Charlie.«
»Und du glaubst, es bringt mir etwas, wenn ich jetzt in der Asche von Jay Stewarts Vergangenheit herumstochere?«
»Das kann ich nicht für dich beantworten. Aber lautet die Frage nicht eher: Warum nicht?«
»Also zunächst mal bin ich keine Kriminalkommissarin, sondern Psychiaterin. Ich weiß gar nicht richtig, wie man Beweise sammelt, um einen Fall zu konstruieren.«
»Jetzt stell dich doch nicht dumm an. Das ist doch genau das, was du die ganze Zeit ohnehin schon tust. Du hast dein halbes Leben damit verbracht, Hinweise auf den Geisteszustand von Menschen zu sammeln und dann deine Schlüsse aus dem zu ziehen, was du zusammenbekommen hast.«
»Das ist doch nicht dasselbe«, protestierte Charlie. »Ich bin keine Polizistin. Ich habe da keinen Erfahrungen.«
Maria stieß sie in die Rippen. »Du hast die Polizei seit Jahren bei ihrer Arbeit beobachtet. Du warst bei zahllosen Verhören dabei, und außerdem ist niemand besser darin, sich irgendwo
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