Alle Tage: Roman (German Edition)
würde?
Ach, wer interessiert sich schon für dein schwülstiges kleines Geheimnis!
Entschuldige, dass ich das sage, aber daran sieht man, wie provinziell du im Grunde bist.
Selbst deine Art und Weise, an der Welt zu leiden, ist provinziell.
Eine von uns ist im Irrenhaus und eine tot. Ich an deiner Stelle würde darüber mal nachdenken.
Der Zweck des Leidens ist die Überwindung, also die Erlösung.
Aber aus deinem Leiden entsteht nichts weiter als weiteres Leiden.
Geh ins Kloster, Abelard!
Wer hat das gesagt? Ich schaue sie mir näher an. Aber sie ist es nicht.
Ich muss zugeben, sage ich, ich habe schon daran gedacht. Ich meine: an ein Kloster. Gerne ein auch touristisch wertvolles in den Bergen. Interessierte können sich Führungen in zehn Sprachen anhören. In den Fresken der Hauptkirche mischen sich byzantinischer und westlicher Stil. Die Gesichter, als wären es Geschwister, oder hundertmal derselbe in verschiedenen Gewändern. Ein wunderbares Gesicht, mit Zügen des Weiblichen, Männlichen und Kindlichen. Ehrlich gesagt, ist es jedes Mal sein Gesicht. In so einer Umgebung fällt es nicht schwer, niemals zu vergessen, weshalb man gekommen ist. Als würde ich permanent Liebe mit ihm machen, dabei betrachte ich nur Hunderte Male sein Gesicht. Manchmal dicht beieinander wie Reben an der Traube, manchmal einzeln in die Ecke gedrängt, durch die Nase läuft ein Knick, die eine Wange auf der einen Wand, die andere auf der anderen. Beten werde ich leider nie können. Aber ich kann meine Tage in Liebe verbringen in Betrachtung seines Gesichts.
Hier schweigen sie ein bisschen. Ist es mir endlich gelungen, sie zu beeindrucken?
Dein Vater, sagt schließlich Bora, war ein bemerkenswerter Frauenliebhaber. Keine von uns hatte viel Erfahrung, es fehlt also der Vergleich, aber für die damalige Zeit war es eine bemerkenswerte Sache.
Alle, murmelnd: Oh ja.
Bist du nicht auch verheiratet?
Doch, das ist er.
Aber er schläft nicht mit seiner Frau.
Das ist nicht so eine Ehe.
Na ja, was soll man dazu sagen. Heutzutage ist doch jeder schwul.
Also, das stimmt so nicht ganz, sage ich, aber sie lassen mich schon wieder nicht ausreden, sprudeln durcheinander. Ich erhebe, was sonst nicht meine Art ist, die Stimme:
Wann werdet ihr endlich aufhören, ihr Tratschtanten?
Daraufhin verstummen sie. Na also, geht doch. Vor mir steht der Obstkorb. Zeit, dass ich ein Exempel statuiere.
Also, sage ich vorsichtig, wenn das hier das Paradies ist, dann ist es auch möglich, dass Wachs wie reife Früchte schmeckt. Ich wähle nicht den Apfel, sondern die Feige. Unter den aufmerksamen Blicken der Paradieswächterinnen führe ich sie an meine Lippen.
Anfangs fühlt es sich an den Zähnen noch wie Wachs an, aber noch bevor ich Zeit hätte, mich zu erschrecken, zu echauffieren, hab ich’s doch gewusst, in die Ecke damit, meinetwegen könnt ihr mich verprügeln, wir werden dir die Hysterie schon noch austreiben!, explodiert der Geschmack des Paradieses in meinem Mund. Applaus ertönt. Schließe die Augen. Lass dich fallen. Ja, so. Hab’ keine Angst. Ein Netz aus Frauenarmen fängt dich auf. Hände streicheln über deinen Scheitel. Sie riechen wie Schoß und Seife, eine nach der anderen streichelt dein glänzendes, kompaktes Haar.
Oh, wäre es möglich? Könnten wir zurück gehen? Anders anfangen, also anders fortsetzen? Bora? Warum nicht das verdammte Bad nehmen, den Geruch wechseln. Ein Handtuch für den Gast hat sie vergessen, ihres nehmen, es ist alt, beige, etwas feucht. Die Reisekleidung zerknüllt gegen den Bauch drücken, die Blöße ein letztes Mal bedeckt, barfuß durch die Küche, die Tür, über den Teppich. Sich zu ihr legen. In Sichtweite von Zuhause. Vierzig Jahre Altersunterschied. Glück ist ein lockerer Schoß. Was ist das für ein Satz? Ich weiß nicht, lass mich näher. Aber sie zieht mich auch schon, sie ist erfahren, leicht gleite ich in den innersten Bezirk der Wärme. Ihr Bauch erinnert mich an Mutter, aber der hier ist dunkler, härter, sehr hart sogar, als würde ich gegen eine Holzwanne drücken, eine Scheide wie ein Kern, das ist nicht fair, wenn ich es schon mal versuche. Schau nach unten und siehe: es ist tatsächlich Holz, ein geschnitzter Körper, poliert, das Y einer stilisierten Joni hineingekerbt, ebenso der Nabel. Ich klopfe gegen das, was man Bauchdecke nennt, um zu sehen, ob sie hohl ist, was sie ist, ein Sarkophag? Die Mumie lacht, dieses Lachen kenne ich, ich schaue hoch und sehe: Tatjanas
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