Alle Tage: Roman (German Edition)

es doch: Was?
    Dass Kapitelverbrecher so wenig kleine Laster haben.
    Dazu kann ich nichts sagen.
    Abgesehen natürlich vom Sex. Dafür sind sie meist sehr zu haben.
    Das ist mir auch aufgefallen. Wie sehr dieser ganze Prozess sexualisiert ist.
    Was hast du erwartet? Von Paarung und Krieg handelt alles.
    Dagegen ist nicht viel zu sagen. Wir schweigen eine Weile. Um uns herum das übliche Rascheln und Räuspern. Schließlich sage ich:
    Es wäre gut, wenn meine Frau hier sein könnte.
    Sie haben keine Frau.
    Doch, ich bin verheiratet.
    Das zählt nicht. Ich bin verheiratet. Fast vierzig Jahre jetzt. Ideal ist es nicht. Aber es zählt.
    Ich sage:
    Ich hätte Lust, lange zungenzuküssen mit meiner Frau. Es wird anders sein als der kräftige Zungenschlag junger Burschen, dafür habe ich den Vorteil, um soviel größer zu sein. Ich kann sie praktisch in den Mund nehmen. Sie in meiner Backentasche aufbewahren wie einen gestohlenen Krokodilzahn.
    Eine Weile sagt er jetzt nichts. Bin ich zu weit gegangen? Schließlich ist sie seine Tochter.
    Also gut, sagt er. Wie ist ihr Name?
    Das weiß ich leider momentan nicht. Ich habe sogar meinen eigenen vergessen.
    Das stimmt nicht. Sie kennen ihn sehr wohl.
    Nein.
    Doch. Sie wissen auch, was draußen ist.
    Was das wieder soll. Ich tue so, als hätte ich das Letzte nicht gehört. Zum Glück geht es schon wieder weiter.
    Könnte jemand die Aschenbecher auswechseln? Danke.
    Verzeihung, dürfte ich, bevor wir weitermachen, etwas sagen?
    Bitte.
    Also, was ich sagen möchte, ist, dass ich ein kleiner Mann bin. Ich bin ein kleiner Mann. Ich habe die letzten zehn Jahre nichts anderes gemacht, als zu arbeiten. Wie am Fließband die Panels zogen die Worte an mir vorbei. Ich habe meine Arbeit getan. Um nichts anderes ging es mir: so effektiv wie möglich zu arbeiten sowie nicht zu sterben. Das ist alles.
    Könnten wir dieses »das ist alles« in Zukunft beiseite lassen? Danke.
    Ich habe meine Arbeit getan.
    Sie haben was getan?
    Ich habe meine Arbeit …
    Schon gut. Die Frage bezieht sich auf die Details. Woraus bestand diese Arbeit?
    Ich habe Sprachen unterrichtet sowie aus und in verschiedene Sprachen übersetzt und gedolmetscht.
    Geschah das regelmäßig?
    Ziemlich. Ja. Praktisch jeden Tag.
    Man könnte also sagen, es war Ihr Beruf.
    Ja.
    Waren Sie angestellt?
    Nein, zeit meines Lebens war ich frei.
    Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie nie eine gültige Arbeitserlaubnis hatten? Sie haben doch nicht einen Pfifferling Steuern gezahlt, richtig?
    Das Einkommen war zu niedrig.
    Darauf wette ich.
    Eine Krankenversicherung hatte ich auch nicht!
    Haben Sie gesundheitliche Probleme?
    Nein. Ja. Ich weiß nicht.
    Wurde jemals Schizophrenie, Paranoia, manische Depression oder Demenz bei Ihnen diagnostiziert?
    Bitte?
    Wurde jemals Schizophrenie, Paranoia, manische Depression oder Demenz bei Ihnen diagnostiziert?
    Das ist meine Privatangelegenheit.
    JA oder NEIN?!
    Nein. Nicht diagnostiziert.
    Was ist mit gelegentlichen Schwindelgefühlen? Geschlechtskrankheiten? Aids?
    Ich wüsste nicht, was das zur Sache …
    Tropenkrankheiten?
    Nein, verdammt. Ich war in meinem ganzen Leben in nicht mehr als einem Dutzend Orte. Alle in der gemäßigten Zone. Wiesen, furchtbare Auen.
    Haben Sie furchtbare Auen gesagt?
    Oder fruchtbar. Eins von beiden wird es sein.
    Leiden Sie an Legasthenie? Verschreiben Sie sich häufig?
    (Lachend:) Oh ja. Praktisch jeden Tag.
    Bitte zu Protokoll zu nehmen, dass der Götze …
    Das ist nicht mein ...!
    … eine bisher nicht berichtete Denk- und Verhaltensweise an den Tag gelegt hat, die man gemeinhin Sarkasmus nennt.
    (Kichernd:) Meingehin Kamsarkus?
    Das Lachen wird dir schon noch vergehen, Furzgehirn!
    Also, das, bitte, kann ich von mehreren Seiten widerlegen! Mit mir beschäftigt sich eine Reihe im Aktenschrank des Forschungsinstituts, die ist so lang, wie ich groß bin!
    Na, wenn das nicht beeindruckend ist!
    Lachen im Saal.
    Jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich war.
    Ihre Arbeit.
    Ja, danke. Ich übertrage Geschichten. Herzzerreißende und komische, ergreifende und skurrile, sentimentale und skeptische. Menschliches, Kindliches, Tierisches. Glaube, Hoffnung, Liebe. Sowas.
    Jetzt ist es rundherum still. Ich habe das Gefühl, sehr gut zu sein. Ich lege nach. Meine Stimme schwingt sanft und sonor, melodiös und männlich:
    Da sind zwei, die lieben einander, aber bevor sie ein einziges Wort des anderen verstehen, vergehen oft Stunden. Sie ist taubstumm, er Spastiker. Ihre Namen sind