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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terézia Mora
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Den Staat gibt es gar nicht mehr. Sie klappte den Pass auf und zu.
    Ja, aber, sagte die Anwältin. Führerscheine sind schließlich auch noch gültig.
    Aber dieser hier nicht. Die Richterin sah noch einmal nach.
    Der Pass war nicht lange nach der Eheschließung abgelaufen. Das fiel Mercedes jetzt ein. Rote Flecken im Gesicht.
    Und überhaupt, sagte die Richterin. Ich kann niemanden scheiden, der gar nicht existiert.
    Das ist der ursprüngliche Name. Vor der Heirat. Die Eheurkunde, soufflierte die Anwältin.
    Ja, sagte die Richterin und schaute sich die Urkunde an. Tatsächlich.
    Sie verglich noch einmal Foto und Mann. Das erste Mal, dass sie ihn überhaupt länger ansah. Bis dahin: als sei seine Anwesenheit so gar nicht gesichert. Größe, Augenfarbe (im Pass steht blau, aber die Richterin sah, dass sie lila sind). Sonstige besondere Kennzeichen: keine.
    Tja, sagte die Richterin.
    Es geht ja diesmal nur um die Absichtserklärung, sagte die Anwältin. Dass beide einmal erklären, ja, wir möchten uns scheiden lassen, der entscheidende Rest wird ohnehin später …
    Ich muss trotzdem wissen, wer mir hier seine Absicht erklärt, sagte die Richterin.
    Sich jemanden von der Straße geholt. So was gibt’s. Sie sah Mercedes an. Hübsches, erschrockenes Kind. Tut mir Leid. Sie werden diesen Mann nicht los. Nicht heute.
    Sie klappte erst den Ordner zu, dann zog sie den Daumen aus dem Pass und gab ihn mutmaßlich Abel Alegre geb. Nema wieder.
    Was willst du da machen.

    Sie verließen das Gebäude gemeinsam: Abel, seine immer noch Ehefrau Mercedes und ihre gemeinsame Scheidungsanwältin. Standen auf den Stufen vor dem Eingang, zwölf Uhr mittags, Verkehrslärm, Sonne, Wind, ein Chor übte Dona nobis pacem, aber das hörte hier nur mehr Mercedes. Die Anwältin trug Graphit, die anderen beiden Schwarz: eine kleine Trauergemeinde.
    Darf man gratulieren? fragte Tatjana.
    Was macht ihr hier? Mercedes sah Omar an. Das war so nicht verabredet. Dass sie da sein würden, wenn sie herauskommen. Liebes Scheidungspaar, liebe Gäste.
    Als sie ihm sagte, sie würden sich jetzt also scheiden lassen, sah Omar Mercedes nicht an, er sagte nur: Schade.
    Jetzt sah er sie wieder nicht an, er sah zu Abel: Ich wollte mich verabschieden. Aber statt auf Wiedersehen sagte er: Hallo, Spion.
    Wie geht’s, Pirat?
    Mein Auge ist mir zu klein geworden. Ich bekomme heute ein neues. Wir fahren von hier aus gleich in die Klinik. Bei Veränderung der Augenhöhle muss eine neue Prothese angefertigt werden. Prothesen aus Kunststoff haben den Vorteil, dass sie beim Herunterfallen nicht zerbrechen. Sie sind jedoch teurer in der Herstellung und erfordern mehrere Besuche beim Okularisten.
    Verstehe, sagte Abel.
    Pause. Sonne, Wind, Verkehr, drei Frauen, ein Kind, ein schwarzer Mann.
    Und? Seid ihr jetzt geschieden?
    Abel schüttelte den Kopf.
    Was hast du getan?
    Ich habe mir meine Identität klauen lassen.
    Tatjana lachte auf. Mercedes’ Blick.
    Du hast da was am Hals, sagte Omar.
    Er griff hin.
    Am Ohr.
    Er rieb die Fingerkuppen aneinander. Etwas blitzte golden. Mercedes setzte sich eine Sonnenbrille auf: Lasst uns gehen.
    Auf Wiedersehen, sagte Omar und reichte Abel die Hand.
    Abel nahm die Hand, zog sich mit ihrer Hilfe an den Jungen heran und küsste ihn auf die Wange.
    Rufen Sie mich an, wenn Sie die neuen Papiere besorgt haben, sagte die Anwältin und verabschiedete sich mit einem Händedruck.

I. GOTTSUCHER
Reisen

Zerbrochene Fenster
    Was passiert nach dem Ende der Dinge?
    Es fängt an! Jetzt! Kollegen! Das wahre Leben!
    Eine Abiturfeier oder doch eher eine Orgie, alle brüllten wie … (am Spieß) zwischen den dicken Steinwänden des Verlieses, heute ein Kellerkneipengewölbe unter dem Hauptplatz, junge Menschen in schwarzweißen Kostümen, im stehenden Dunst, rundherum im kalkgesprenkelten Erdreich die Trümmer alter Zeiten: Köpfe, Torsi, Füße aus Stein. Das also ist das feierliche Ende unserer… (goldenen) Jugendzeit. Ödes Herumsitzen in braven Klamotten um klobige Holztische herum. Viel zu sagen hat man sich nicht, was soll man auch sagen, zu wem. Das Beste ist, möglichst ohne Umwege betrunken zu werden, notfalls hält man sich die verheulte Nase zu, irgendwie wird man das Zeug schon hinunterkriegen: Gelbes, Rotes, Sprudelndes, aber am besten ist der wasserklare Stoff. Es kommt der Moment, wenn einer Mut und Zeit gekommen sieht, klirrend auf die rustikale Platte zu steigen und etwas über das Leben! zu schreien.
    Das Leben! Steht schwankend auf

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