Alle Tage: Roman (German Edition)
Nacktbar! Eine Polizeirazzia trieb in der Nacht von Sonntag auf Montag etwa zwei Dutzend nackte Personen aus der Erotikbar Die Klapsmühle auf die Straße! Jemand hatte den Barbesuchern Drogen in die Drinks getan und anschließend ihrer Kleider beraubt! Ein grober, grober Unfug ist so was! Etwa zur gleichen Zeit befiederten unbekannte Täter die Weißen Schwäne des Friedens im Großen Park! Flieg, Vogel, flieg! Keine Woche ist es her, dass das Kunstwerk, eine Nachbildung der Papst Pius XI. geschenkten Porzellanskulptur zweier Schwäne, feierlich am Nordende des Parks aufgestellt worden ist! Zwischen Blumenbeeten mit Blick auf grünes Wasser glänzten sie friedlich in der Sonne! Igor K., Aktionskünstler, stand am Rande auf einem Campingstuhl, seine großen Füße standen vorne über, und er brüllte: Nieder!
O-Ton: Mit der Lüge und dem Kitsch! Meine Empörung ist a) ästhetischer, b) moralischer, also c) politischer Natur. Die moralische, also politische Lüge offenbart sich durch die ästhetische und wird umso sichtbarer. Aber selbst wenn politisch-moralisch nicht gelogen würde, die ästhetische Lüge allein reichte schon aus, mich zu empören. Ich bin empört, sagte I.K. Anschließend ging der Künstler zurück in seinen Keller und setzte seine Aktion »Hunger«, die er für den Protest unterbrochen hatte, fort. Die Videodokumentation der Performance beweist: der Künstler I.K. ist für die Befiederung der Schwäne nicht verantwortlich. Das Original der Skulptur steht unversehrt in den Vatikanischen Museen neben einer Vitrine mit einem Messgewand aus dem sechzehnten Jahrhundert, das über und über mit sechsarmigen Seraphen bestickt ist!
Das Badewasser war kalt, obendrauf hatte sich ein fettiger Film gebildet. In den Augen war auch etwas davon, es dauerte eine Weile, bis er einigermaßen klar sah. Der Fettfilm war goldfarben, und, soweit er es sehen konnte, hatte er ihn überall am Körper. Als wäre der Engel ganzkörperlich auf ihn abgefärbt, dabei kann ich mich nicht erinnern, ihn berührt zu haben. Doch, einmal, am Knöchel. Er sah sich seine Finger an: verschrumpelt, golden. Dass er das wird loswerden müssen, fiel ihm ein, und dann erst, wieso das gerade jetzt ein Problem war. Erneutes hektisches Schwappen, keine Ahnung, wie spät es ist, auf jeden Fall viel zu spät.
Fröstelndes Aussteigen, hastiges Abtrocknen. An einem Spagat über der Wanne pendelte ein verschmiertes Stück Spiegel, darin, fern hinter Pailletten aus Kalk, einpaar verschmierte Augen, Blut in vornehmer Blässe, Rot und Weiß sind die Farben des Morgens. Das Radio, als wäre es fünf Zentimeter neben seinem Ohr.
Was gibt es noch? Was sagen die Krankenhäuser, Polizeistationen und Seelsorgetelefone? Am Samstag hat ein Mann eine Kettensäge gekauft, am Sonntag hat er sich den Unterschenkel damit abgesägt, während seine Familie in der Kirche war. Der arbeitslose Mann hatte auf seine Arbeitsunfähigkeitsversicherung spekuliert. Er verblutete in der Badewanne. Was kommt als Nächstes? Im Großen und Ganzen dasselbe wie immer, würde ich sagen. Flüchtlingsschiff vor Küste gesunken, Indianerüberfall auf Siedlung, vierzehn Tote, Waldbrände wüten, Pegelstände steigen, zurück auf die Bäume, dem Tribunal in H. gehen langsam die Zeugen aus, ein weiteres halbes Dutzend Firmen rutscht in den Pennystock, nichtsdestotrotz starten wir voller froher Hoffnung in eine neue Arbeitswoche. Der Verkehr ist mörderisch. Wir bekräftigen unsere Absicht, Atomwaffen einzusetzen gegen folgende Staaten. Sie hören Radio Paradiso, willkommen in der Freakshow, Leute, willkommen, willk- - -
Hier hatte Abel das Treppenhaus verlassen.
All das zu erzählen, womöglich auch noch chronologisch, wäre nicht möglich und überflüssig gewesen, also sagte er seiner Frau nur soviel, er sei letzte Nacht aus gewesen und man habe ihm das Sakko gestohlen. Mit allem drin. Ausweis, Geld, Kreditkarte. Jetzt fällt ihm ein, dass er sie nicht hat sperren lassen. Alles, was er in der Tasche habe, seien einpaar Münzen, ein Wunder, dass er überhaupt hier sei, mit dem Einzigen, was ihm, als Zeichen seines guten Willens, geblieben ist: seinem abgelaufenen Reisepass.
Bitte, was?
Das sei sein einziges verbliebenes Dokument, mit einem zehn Jahre alten Foto darin. Wenn das hilft.
Sag, dass das nicht wahr ist.
Die Richterin sah sie an. Sah die Anwältin an, Mercedes, den Mann mit dem schwarzen Trenchcoat und dem Veilchen im Gesicht, den Pass, wieder Mercedes, die Anwältin.
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