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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terézia Mora
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dem Tisch, schreit zwischen zwei Schluchzern, mal ist es Lachen, mal Weinen: Leben! Das wahre! Freunde! Jetzt! Wir! Eingekeilt zwischen unseren Vätern und unseren Söhnen. Unseren … Was wollte ich noch mal? Eingekeilt. Vätern. Egal! Jetzt! Neu! Und alt auch! Alles ist hier! Wir! Ich sage …! Ich liebe euch, Jungs!
    Die bestrumpften Beine eines unbekannten Mädchens glänzten, sie schluchzte auf: Ich liebe dich!, und legte einen Arm um Ilias Hals.
    Lass uns gehen, sagte Ilia zu seinem Nebenmann.
    Der Mädchenarm rutschte wie etwas Totes, Weißes seinen Rücken hinunter und blieb liegen.

    Zuerst liefen sie fünf Jahre lang durch die Stadt – Wie viel Stunden? Wie viele Kilometer? Einmal um die Erde? Weniger? Mehr? Egal? –, dann machten sie Abitur. Das anschließende traditionelle Besäufnis verließen sie frühzeitig. Sie gingen geradeaus, bis die Hauptpost im Weg stand, rechts um das Gebäude herum, weiter Richtung Bahnhof. Sie schwiegen schon seit einer ganzen Weile, die Stadt um sie herum ebenso, oder nein, im Gegenteil, es war sogar ziemlich laut, Arbeit, Feste, Streitigkeiten, aber immer woanders, mindestens eine Straße weiter. Wo sie waren, war alles still und leer. Sie gingen bis zum letzten Abzweig vor dem Bahnhof. Es war immer Ilia, der Zeichenempfänger, der die nächste Richtung vorgab. Jetzt blieb er stehen. Die Stundenstriche der Bahnhofsuhr leuchteten weiß vor dem schwarzen Himmel. Abel zählte die Stunden. Noch sechsunddreißig. Dann wird man sich auf den Weg machen, den Rest des Sommers durchs Land fahren. Wohin, egal. Prinzip Gottesurteil. Lass uns uns verirren. Der Vorschlag kam von Abel, Ilia nickte. Sie hatten kein Auto, noch nicht einmal einen Führerschein, nehmen wir eben den Zug.
    Eigentlich wollte er warten, bis sie an einem besseren Ort waren, einer Küste, einem Panoramapunkt, irgendwas mit Atmosphäre und Bedeutung, aber dann sah Abel in die schwebende Uhr und er musste an den Arm des Mädchens denken, an diesen ganz und gar unbedeutenden Arm, und er sagte:
    Ich liebe dich.
    Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte eins vor.
    Ich weiß, sagte Ilia.

    Später reichte er ihm die Hand. Abel lehnte an der Wand, Ilia stand mit zur Seite geneigtem Kopf vor ihm, dann, wahrscheinlich nach Minuten, streckte er die leere Handfläche vor: Sieh, ich trage keine Waffe. Sah dabei aber weiter irgendwohin, zur Seite. Abel fing an, an der Wand herunter zu rutschen, auf den pelzigen Schmutz des Gehsteigs zu. Na! sagte Ilia und schloss die ausgestreckte Hand zur Faust, bevor er sie zurückzog. Genervt, verächtlich: Na! Das half. Abel bremste das Rutschen, stieß sich von der Wand ab und ging.
    Er ging links herum, Ilia muss – wie man sich das vorstellt – die entgegengesetzte Richtung genommen haben, oder wer weiß, vielleicht blieb er auch lange dort stehen. Abel sah sich nicht mehr um.

    Eine außer Takt geratene Flipperkugel in den engen Korridoren der Altstadt: Er rannte, stolperte, stieß sich an Wänden. Immer, wenn das passierte, blieb er für einen Moment stehen und sah sich um. Nicht, ob er hinterherkam. Ilia mit seinem Herzfehler, sportbefreit, könnte er das überhaupt, so schnell rennen, egal, er soll nicht, soll er doch - - -. Er sah sich einfach so um, sehen, was da ist, wie es jetzt ist. Dieser Moment, wenn dir alles fremd wird. Bis er irgendwann wirklich nicht mehr wusste, wo er war.
    Kann ich mich in tausendmal gelaufenen Straßen verirrt haben? Ist das möglich? Er bog noch einpaar Mal ab, lauschte auf den Lärm der unsichtbaren Anderen, was machen sie und wo? Am Hauptplatz vielleicht, aber in welcher Richtung ist der jetzt? Nach einer Weile hatte er den Eindruck, er wäre wieder auf dem Weg zum Bahnhof. Auch gut. Dann doch wieder: Herzklopfen: Was, wenn er noch dasteht?
    Als die Straßen immer steiler wurden, wurde ihm klar: Wie auch immer, er war bereits hinter den Bahnhof geraten, hatte die Schienen überquert, ohne es zu merken, nun war er unterwegs in die Berge hinauf.
    Das Trottoir bestand immer mehr nur noch aus Treppen, er hastete hinauf, als müsste er sich beeilen, das eiserne Geländer, wo es eins gab, schwankte, wenn er es losließ. Später gab es keine Treppen und auch keine Häuser mehr, nur noch den schlechten, groben Asphalt der Straße, mit seinem scharfkantig krümelnden Rand. Diesen Weg kenne ich, er führt zu einem Aussichtspunkt hinauf, Ziel Dutzender Ausflüge, allerdings noch nie mitten in der Nacht. Zwischen den Bäumen war es stockfinster, teilweise

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