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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terézia Mora
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hätte man getrost die Augen geschlossen halten können, wie wenn man im Traum läuft. Er wusste: das ist der Weg zum Turm, aber jetzt war es, als müsste er endlos sein, ich kann mir nicht vorstellen, jemals anzukommen. Das ist einer dieser endlosen Traummärsche, bei denen höchstens soviel passiert, dass der Berg immer steiler wird. Er neigte den Oberkörper nach vorn, um die Steigung auszugleichen. Seine Fingerspitzen berührten den Asphalt. Auf allen vieren zu gehen, erwies sich als gut, er blieb dabei. Das erste wirklich Seltsame, das ich in meinem Leben getan habe: auf vier Beinen durch einen stockfinsteren Wald gehen. Die Sterne schienen auf den glänzenden Stoff seines Rückens. Erst, als er vor dem Aussichtsturm stand, richtete er sich auf.
    Was in den nächsten Minuten?, Stunden? passierte, darüber gibt es keine genaue Kenntnis. Er wird sich die Lichter der Stadt angesehen haben, die er noch nie so gesehen hatte, weil er noch nie zuvor nachts auf dem Berg gestanden war. Er sah sich die Stadt aus dieser neuen Perspektive an und empfand, abgesehen von einem irren, den ganzen Körper ausfüllenden Schmerz: gar nichts. Eine kleine Stadt, in der Nähe dreier Grenzen, Sackbahnhof, Luftlinie, Hunde. War ich je glücklich?
    Ja. Solange er ihn hatte. Und jetzt? Den Rest des Lebens hier oben verbringen? Der Einsiedler vom Aussichtsturm sein? Zwischen eingeritzten Liebeserklärungen, Obszönitäten und anderen Existenzbeweisen leben? Sich in jeder wachen Minute das Labyrinth der Straßen anschauen? Denn ab jetzt ist alles der Rest und interessiert mich als solcher nicht.
    Ein Auto kam. Die Insassen, ein Liebespaar, bemerkten ihn nicht, sie hatten es zu eilig. Sie fingen zu kopulieren an. Abel wartete, bis die Scheiben beschlagen genug waren, und ging an ihnen vorbei. Später verlor er die Konzentration und rutschte an der bröseligen Kante der Straße aus. Er fiel auf den Hintern, rutschte auf Handflächen und Fersen nach unten, hielt an, blieb noch eine Weile sitzen, stand auf. Fußsohlen und Hände schmerzten, in den Schürfwunden saßen winzige, blutige Steinchen, fielen nebenbei ab, wie der langsam trocknende Waldboden von der Rückseite des Anzugs, egal, er ging hinunter in die Stadt.

    War das jetzt alles?
    Eins gibt es noch. Dieses Fenster, Parterre, hinter dem Theater, in dieser Straße ohne Namen, weil gar keine Straße, nur eine Furt, in der es nichts gibt, außer einigen Parkplätzen für ausgewählte Fahrzeuge, dem Künstlereingang und dem erwähnten Fenster vis-à-vis. Die Fensterbank so niedrig, dass es (früher, manchmal) einfacher war, an die Scheibe zu klopfen und direkt ins Zimmer zu steigen, als um die Ecke zu gehen und den Eingang zu benutzen.
    Abel kam vom Berg herunter, lief durch den Stadtpark, über die Bahnlinie, das war schon seine Straße. Er ging an dem Haus vorbei, in dem Mutter und Oma schliefen, überquerte zwei kleinere Plätze mit jeweils einer Statue, ging um das Theater herum, stand vor dem Fenster. Die nackte Lampe über dem Künstlereingang schien ihm auf den Rücken, er sah sich als Silhouette in der dunklen Scheibe. Dahinter rührte sich nichts. Rundherum hämmerte, klirrte, schepperte, heulte, jauchzte es umso lauter, ein mörderisches Fest muss das sein, oder vielleicht auch nur eine Halluzination, denn zu sehen war weiterhin nichts. Er wartete eine Weile, dann trat er sein Spiegelbild ein. Zuerst die linke, dann die rechte Scheibe. Die Scherben prasselten nach innen, aufs Bett. Er sah die Bettwäsche gräulich aufschimmern, sonst regte sich nichts. Oder er wartete es nicht ab.

    Zuerst lieben sich zwei wie selbstverständlich, dann hassen sie sich ebenso, und der Übergang von dem einen Zustand in den anderen währt so kurz wie der Augenblick, ihn zu begreifen, und fällt – das ist das eigentlich Schmerzliche – keiner der Seiten besonders schwer. Sagte: ich liebe dich, sagte: ich dich aber nicht, ging davon, irrte umher, stieg auf einen Berg, kam wieder herunter, fiel, stand auf, trat ein Fenster ein, ging nach Hause, zog die Türen des Wandschrankes zu, legte sich hin. Später schreckte er auf, weil ihn eine Herzattacke aus dem Bett schleuderte.
    Das Bett war kein Bett, nur eine Matratze im Garderobenschrank im Flur. Er schlug im Fallen gegen die Sperrholzwand, das muss einen Mordskrach gegeben haben, kam mit dem Gesicht auf dem Schrankboden auf und blieb liegen. Er drückte die nasse Stirn auf den Teppichboden, der Staub knirschte, er atmete, so gut es eben ging, und

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