Alle Tage: Roman (German Edition)
Leid, sagte Mira, dass ich dir kein Auto kaufen kann.
Nachdem sie im Sommer nach Andors Verschwinden vergeblich herumgefahren waren, verkaufte sie das himmelblaue Auto. Außerdem verramschte und verschenkte sie Andors Kleidungsstücke und Bücher und riss seine Fotos aus den Alben.
Ein höflicher Sohn würde jetzt etwas sagen, aber Abel sagte nichts.
Hallo, sagte Mira, schau uns an. Hier sind wir.
Ein Lotterieschein, sagte Vesna später. Ich wüsste nicht, was besser wäre, um sein Kind ins Leben zu entsenden. Hasardös ist das Leben, mein Kleiner. Ich an deiner Stelle hätte ihm eine Rolle Chips fürs Casino geschenkt, da wären die Chancen höher. Er könnte einpaar zwielichtige Persönlichkeiten kennen lernen, das würde seine Aussichten enorm aufwerten. Zweifellos wird die Unterwelt in Zukunft die Macht hier übernehmen, es gilt, auf der richtigen Seite zu stehen, ich persönlich hätte lieber einen erfolgreichen Mafiaboss als Sohn, als …
Als was?! schrie Mira.
Großmutter murmelte leise Flüche: Hässliche Kreatur, Zigeunerin, Schandmaul.
Sie ist ein feiner Kerl, sagte Mira.
Jetzt bin ich dran! sagte Großmutter. Aus einem großen Männertaschentuch wickelte sie eine Dose. Darin: die Auszeichnungen des Großvaters, die aus dem Krieg und die für herausragende Arbeit, eine ganze Blechdose voller Blech, darüber wurde sogar Mira ganz rot. Abel legte den Lotterieschein auf die Aufzeichnungen, schloss den Deckel und teilte mit, er würde den Rest des Sommers auf Reisen sein.
Drei Frauengesichter.
Mit wem? Mit Ilia?
Nein.
Mit wem dann?
Mit niemandem. Allein.
Und Ilia?
- - -
Aber womit?
Mit dem Zug.
Aber wohin?
Das wisse er nicht genau. (Lüge.)
Schweigen.
Er ist jetzt ein erwachsener Mann, sagte Vesna, sah ihm über Aknenarben und Gurkennase hinweg fest in die Augen und schenkte ihm einen für unsere Verhältnisse großen ausländischen Geldschein. Für irgendwas wird er schon gut sein.
Hundstage
Verschwunden: Der Bürgermeister einer kleinen Ortschaft in D. während der Feier zu seiner Wiederwahl. Der Chaosforscher Halldor Rose von einem Kongress kommend. Der ehemalige Jugendchorleiter N.N., der vor so und soviel Tagen am Boca de Inferno in Portugal aufgebrochen ist, um den eurasischen Kontinent zu Fuß bis zur Spitze der Kola-Halbinsel zu durchqueren. Am zwölften Juni vor zwanzig Jahren, am frühen Morgen des ersten Tages der Sommerferien: Abel Nemas Vater.
Ein halber Ungar, die andere Hälfte ungewiss, er sagte, er trüge das Blut sämtlicher Minderheiten der Region in sich, ein Zugereister, ein Zigeuner, ein Stimmenimitator und Abenteurer, der auf zwei Flöten gleichzeitig und die Balalaika spielen konnte, und wer weiß, was noch alles. Es stellten sich immer neue Sachen über ihn heraus, das war irritierend und beeindruckend, sagte Mira, solange man an jemanden glauben will, ist so etwas beeindruckend. Bestimmt bald ein Alkoholiker, sagte Oma, als sie sah, wie viel türkischen Kaffee er trinken konnte, aber er dachte nicht daran, sich an Prognosen zu halten, er blieb überraschend bis zuletzt.
Er stand vor dem Haus, sechs Uhr früh am ersten Tag der Sommerferien, die Straße herunter, aus Richtung Bahnhof, schienen Sonnenstrahlen geradewegs auf ihn zu. Ein dicker, goldener Pfeil, der auf ihn zeigte, aber mit einer Helligkeit und Hitze, als wäre es mindestens schon Mittag. Dass es in Wahrheit schon bedeutend später war, dachte Andor Nema, und dass er vermutlich nicht mehr viel Zeit zu verlieren hatte. So oder so ähnlich. Das letzte, was Abel in seinem Schrank liegend von ihm wahrnahm, war das Geräusch der sieben Schritte, die dieser brauchte, um den Flur zu durchqueren. Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechssieben. Die Tür. Leise auf, noch leiser: zu. Eine Stunde und vierzig Minuten später, als er seine erste Unterrichtsstunde anfangen sollte, war Andor nicht mehr in der Stadt. Er ging, wie er gekommen war, mit leeren Taschen, vielleicht mit etwas Kleingeld, einer Zigarettenschachtel, einem Taschentuch. Zurück blieben seine leeren Kleider, ein klappriges Auto und ein Karton voller Postkarten.
Bevor er seinen einzigen Sohn Abel zeugte, hatte Andor Nema zwölf Geliebte. Davon war eine tot durch Eigenhand, eine war Bewohnerin einer psychiatrischen Anstalt. Mit den anderen schrieb er sich Postkarten. Diese bewahrte er neben alten Liebesbriefen und Fotos in einem Karton auf. Mira lachte: Eitler Gockel.
Alles, was ich kann, habe ich von Frauen gelernt, sagte Andor. Dies ist mein
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