Alle Tage: Roman (German Edition)
Ganze dauerte keine Viertelstunde.
Im Brief stand im Wesentlichen, dass Abel Nema ein Genie sei. Es ist in unser aller Interesse, eine Person mit so außergewöhnlichen Fähigkeiten, wie Herr A.N. sie besitzt, mit allen Mitteln … etc. Nicht ganz eine Woche, und Abel hatte alles zusammen, was ein Mensch braucht. Alles in Ordnung, telegrafierte er an seine alte Adresse. Seit dem Gespräch im Krankenhaus hatte er nicht mehr telefonieren können. Weder zu Hause noch in der Schule ging einer an den Apparat.
Habe ich richtig gehört? (Woher schon wieder?) Konstantin in der Küche. Du hast ein Stipendium von der S … Stiftung bekommen? Wieso hast du mir nicht gesagt, dass man sich bewerben kann? Ich lass dich umsonst bei mir wohnen, und was machst du? Warum seid ihr nur alle solche Egoisten?
Man kann sich nicht bewerben, sagte Abel. Es ist eine spezielle Förderung für Hochbegabte.
Aha, sagte Konstantin. Setzte sich auf die andere Seite des Küchentisches, sah zu, wie der Erwählte aß: vornehm, wählerisch, leise. Konstantin seinerseits pflegte wie eine Ente zu schmatzen. Wenn er etwas angeboten bekam. Aber das fällt ihm hier natürlich nicht ein. Du bist also ein Begabter.
Glückspilz, sprach ihn Konstantin an. Was hast du jetzt vor? Hast du vor, dir eine Wohnung zu suchen?
Pause. Abel aß, möglicherweise dachte er nach. Ja, wahrscheinlich würde er sich eine Wohnung suchen.
Hm, sagte Konstantin. Es ist alles so teuer. Das kannst du dir nicht vorstellen.
Pause.
Die Toiletten sind im Treppenhaus und frieren im Winter ein, auf der schwarzen Brille versteinern die von den Nachbarn hinterlassenen obskuren weißen Spuren.
Was, sagte Konstantin schließlich, was, außer dass es illegal und gefährlich ist, spräche eigentlich dagegen, dass Abel für immer im Zimmer des Algeriers blieb? Da er offiziell gar nicht da sei, würde er auch keine Miete zahlen und statt dessen die Hälfte seiner , also Konstantins Zimmermiete übernehmen können, schließlich sei er, Konstantin, bereits ein nicht unbeträchtliches Risiko für ihn eingegangen, der fischköpfige Pal und so weiter, das wäre doch nur gerecht, und man wäre sozusagen quitt. (Mustert ihn:) Könntest du als Algerier durchgehen? Warum nicht? Wie sieht schon ein Algerier aus.
Abel sagte weder ja noch nein, aber er blieb.
Konstantin lachte von Herzen:
Was waren das für Zeiten!
Später allerdings musste er sehen, dass er – wie so oft, auch diesmal – enttäuscht wurde. Unser fiktiver Mitbewohner schien kein Interesse an irgend etwas zu haben. Weder mitgerissen noch gedemütigt von all dem hier . Sprach keine drei Worte am Tag, man (Konstantin) bekam ihn so gut wie nie zu Gesicht. Aß und schlief kaum, dafür lernte er praktisch permanent, aber mit einer Vehemenz, als ob – ich weiß auch nicht. Als würde er noch nicht einmal beim Fenster hinausschauen. Als wäre es egal, wie es dort aussieht. Eine Stadt, basta. Das nehme ich dir nicht ab, sagte Konstantin. Kein Mensch sieht die Welt so. So formal .
Früher wollte Abel, oder wer weiß, er schickte sich an, Geographielehrer zu werden, jetzt war das Innere seines Mundes das einzige Land, dessen Landschaften er bis ins Letzte kannte. Die Lippen, die Zähne, die Alveolen, das Palatum, das Velum, die Uvula, die Lingua, der Apex, das Dorsum, die Zungenwurzel, der Kehlkopf. Voice onset time, stimmhaft, stimmlos, Aspiration, distinktiv oder nicht. Verschlusslaute, Frikative, Nasale, Laterale, Vibranten, Approximanten, Taps und Flaps. Sage und schreibe vier Jahre lang, nach Männerwohnheim, Linoleum, Neonlichtern riechende Zeit, bewegte er sich so gut wie ausschließlich entlang einer einzigen Strecke: vom Wohnheim zum Sprachlabor und zurück. Drei Stationen Schnellbahn, ein kurzer Fußweg. Es ist immer dunkel in diesem Bild, als wäre immer Winter, aber natürlich kann das nicht sein, in vier Jahren wird es wenigstens einen Sommer gegeben haben, egal, er trug immer dieselben Klamotten, die schwarze Altmännerkluft, in der er hier noch mehr auffiel als dort , würde man hier Blicke verschwenden an so etwas. Demonstrativ(?) unmodisch, na wenn schon. Wenn es Blicke gab – ja, es gab sie, denn abgesehen von den Klamotten und dem unidentifizierbaren Haarschnitt sieht er gut aus –, erwiderte er sie nicht. Er ging nirgends hin, wo er nicht unbedingt hin musste, auch ins Labor ging er meist nachts, wenn er allein sein konnte. Ein einzelnes schwebendes Lichtquadrat in einem dunklen Haus.
Abel N. ist auf wundersame
Weitere Kostenlose Bücher