Alle Tage: Roman (German Edition)
er hatte noch etwas Unaufschiebbares zu tun, oder nein: Er hatte gerade die Lust an der Gesellschaft, wie überhaupt an allem, verloren. Die Krise der Fünfzigjährigen. Oder eine von Anfang an in Wartestellung stehende Depression. Immer in der zweiten Reihe. Steht da, wartet geduldig, wenn man hinschaut, zwinkert sie einem diskret zu.
Es fing damit an, dass Tibor nach einer Pause von fast fünfundzwanzig Jahren wieder unter seiner Hässlichkeit zu leiden begann. Er verachtete sich dafür. Er war ein kluger, ein sehr kluger Kopf, und er wirkte auf Frauen. Sie verliebten sich in ihn. Sie taten alles für ihn. Was willst du also? Er nahm ein Urlaubsjahr. Ich will, also werde ich ein Buch schreiben. Das Jahr ging vorüber, das Buch war nicht fertig, aber das war nicht der Grund, weiterhin nur sehr sporadisch am Lehrstuhl zu erscheinen. Er hatte einfach die Lust verloren. Seine Studenten interessierten ihn nicht, ehrlich gesagt, fiel es ihm schwer, sie auseinander zu halten. Das ist nicht gerade löblich, andererseits war er unkündbar, und man hörte, seine zweite Frau, diese Anna, sei rezitiv geworden (die Brust), also behelligte man ihn nicht mehr als nötig. Anna tänzelte lächelnd durch ihre gemeinsamen Räume, unnötig, es schwerer zu machen, als es schon ist. Doch er war von seiner Angst vor ihrem Tod so überwältigt, dass er kaum mehr sein Arbeitszimmer verließ. Seine Doktorandin Mercedes kam fast jeden Tag, brachte ihm die Korrespondenz, recherchierte für ihn, betreute seine Studenten, vertrat ihn, wo es nur möglich war. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt, allein erziehende Mutter eines zweijährigen Sohnes mit einem Tumor im rechten Auge, und sie war in ihn, den Studienfreund ihres Vaters, verliebt. Sie stellte jede freie Minute in seinen Dienst. Das Kind ließ sie die meiste Zeit bei ihren Eltern. Tibor mochte keine Kinder. Sie gingen ihm auf die Nerven. Alles ging ihm auf die Nerven. Wenn man ihn um Hilfe bat, half er, zum Beispiel diesem hoffnungsvollen – oder man weiß nicht –, jungen Abel N., der daherkommt und meint, weil er aus derselben Stadt stammt, aus der wir damals vertrieben …, egal, Schwamm drüber. Doch, er muss voller Hoffnung sein, wie denn auch nicht, in dem Alter, in der Situation, ihm zu helfen ist das Minimum, also half er, doch die unbekannte Größe D ist der unbekannten Größe P insofern eine nahe Verwandte, als dass man nicht wirklich Interesse für Leben und Leiden anderer aufbringen kann. Tibor wusste auch das und verachtete sich auch dafür. Ein anständiger Mensch hätte gefragt, ob der Junge schon eine Unterkunft hatte. Ein anständiger Mensch hätte eines seiner beiden Gästezimmer angeboten. Ein leidenschaftlicher Mensch hätte ihn lieb gewonnen und hinfort wie einen Sohn … Szenarien . Man kann unmöglich jedem helfen, dachte er und ging zurück an die Arbeit.
Etwas Ähnliches dachte auch Anna. Sie wusste alles, über ihn, über sich, über die junge Frau, und dachte, dass man unmöglich jedem helfen kann. Für diese kurze Zeit konzentrierte sie sich auf einpaar Sachen, die sie gerne tat. Einmal im Monat lud sie Leute zu einem Jour fixe ein. Alte Freunde, unter ihnen Mercedes’ Eltern – die allerdings nur selten kamen; Miriam konnte Tibor, ehrlich gesagt, nicht erst, seitdem ihr Enkelkind nicht willkommen war, nicht leiden, und Alegria sah nicht ein, wieso er alleine etc.–, die erträglicheren Kollegen, einpaar ehemalige Lieblingsstudenten. Einmal im Monat kann sich auch der Hausherr zusammenreißen, einpaar Stunden dabei sein, diskutieren, sogar plaudern wie ein normaler Mensch. Es gab welche, die nichts merkten. Sie sprachen, wie man spricht, über alles Mögliche. Nachdem Anna gestorben war, zog Mercedes bei Tibor ein und übernahm ihre Pflichten. Das Kind war inzwischen fast sechs, schön und klug wie die Sonne, der heimliche Star der geselligen Zusammenkünfte, und Tibor ertappte sich dabei, dass er ihm gerne zusah und zuhörte. Irgendwann wurde ihm sogar klar, dass er es bewunderte und ihm dankbar war. Das, Dankbarkeit empfinden zu können, machte ihn fast glücklich. Es ging ihm besser. Er brachte das Buch zu Ende und fing ein neues an. Seit Abels Ankunft waren vier Jahre vergangen.
Man saß also gerade wieder zusammen, der fixe Freundeskreis, jemand, ein Exkollege, hatte vor kurzem eine Reise durch Albanien überlebt. Ein albanischer Dichter hatte ihm lange über die Schönheit des Vaterlands oder über Schönheit und Vaterland erzählt. Über die
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