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Alle Tage: Roman (German Edition)

Alle Tage: Roman (German Edition)

Titel: Alle Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terézia Mora
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gerade befand. Er orientierte sich anhand einiger signifikanter Landmarken: dem Park, dem Bahnhof, der Nervenklinik, dem einen oder anderen Kirchturm. Dazwischen sahen die meisten Ecken so aus, als wäre er gerade erst da gewesen. Wandeln durch ein permanentes Déjavu. Auf der anderen Seite sah oft ein hundert Mal gegangener Weg ausgerechnet vor der letzten, definitiv geglaubten Rechtskurve so aus, als könnte das unmöglich stimmen. Als hätten sich die Himmelsrichtungen um einen gedreht. Zum Glück oder nicht waren den Irrwegen physische Grenzen (seine) gesetzt. Im Wesentlichen bewegte er sich durch drei Nachbarbezirke östlich der Bahn, soviel man als Einzelner eben bewältigen kann. Es gab Tage, die kälter waren als andere. Christophoros S., ehemaliger Müller, heute besser bekannt als der fette Zeus aus dem Park, kennt für solche Fälle gute Plätze in den kollabierten Werkstätten in der Nähe der Bahn. Sich zu ihm gesellen, für ein gemütliches Feuerchen? Später vielleicht. Davor gibt es noch Wartesäle (gewiss nicht), Lokale (auf die Dauer zu teuer) und Bibliotheken, sowie für die Abwechslung: die eintrittsfreien Tage der Museen. (Meine Mutter legte stets großen Wert auf die Kultur gegen die Barbarei. Nachdem sie das Auto verkauft hatte, nahm Mira den Zug, um mit ihrem Sohn in eine der drei nächstgelegenen Hauptstädte zu fahren. Bis zum letzten Zug nach Hause hatten sie acht Stunden, während derer sie durch soviel Museen und Kirchen liefen, wie zu schaffen waren. Wäre ich nicht so ein höfliches Kind, würde ich jetzt an dieser Straßenecke stehen bleiben, mir Sandalen und Socken ausziehen und nachsehen, ob ich, wie ich annehme, blaue Flecken auf den Fußsohlen habe. Was meinst du, für wen ich das hier tue?!?) Im Winter der Leere , als Abel trotz Wochen intensiven Matratzensitzens und Nachdenkens partout nicht einfallen wollte, wie es denn jetzt, da er nicht mehr lernen konnte, weitergehen sollte – Falls du bei der Verladung am Bahnhof oder im Zeitungsvertrieb arbeiten möchtest, Andre kann dir eine Stelle besorgen. Danke, sagte Abel. Ich werde darüber nachdenken –, las er mehr Bücher und sah sich mehr Kunstwerke an als jemals zuvor oder danach. Er war, außer dem Künstler und einer jungen Frau, die ihre Diplomarbeit darüber schrieb, der einzige Mensch, der sich ausnahmslos jede der Geschichten in einer 42 talking heads umfassenden Installation zu Ende anhörte. In einem Installationsraum lässt sich’s gut sitzen, die Kopfhörer baumeln sanft, die Temperatur ist konstant, die Luft ventiliert, minimiert den Geruch eines Lebens in der Anarchie, so fallen wir weniger auf. Manchmal kommt eine Aufseherin, zieht die Vorhänge auseinander, schaut herein. Schwarzes Kleiderbündel in der Ecke. Chinesische Bauernkinder lernen das Pingpongspiel und hoffen auf ein besseres Leben.
    Einige Wochen lang geschah nichts Außergewöhnliches, Kunst ist so was Normales. Später weiß man von einem Zwischenfall:

    Ein älterer, strenger Herr, irgendein Oberaufseher, klein und rund, was mochte in ihm vorgehen? Zehn Minuten vor der Schließstunde ging er durch die Säle, klatschte in die Hände: Herrschaften! Wir schließen gleich! … Ich werd’ verrückt! Was macht er da? Schläft er etwa? Der schläft hier!
    Er klatschte wieder, ein martialischer Kindergärtner: Hallo! Aufwachen! Der schläft mir hier! Er kann doch hier nicht schlafen! Das ist ein Museum, nicht die Bahnhofsmission! Hat man so was schon erlebt!
    Ob der schwarze Typ im Installationsraum wirklich geschlafen hatte, ist die Frage. Er saß mit geradem Rücken, die Hände auf den Knien auf einem Hocker vor den Bildschirmen, Augen geschlossen, Kopfhörer auf, vielleicht hatte er den Alten einfach nicht gehört. Zwei jüngere Aufseherinnen neugierig im Hintergrund. Jetzt öffnete er die Augen, nicht wie jemand, der gerade erwacht, eher wie bei einer Puppe, einem gerade erweckten Monster, klapp, gingen die Augen auf.
    Hört er mich? Finito!
    Der Alte, da er jetzt zu sehen war, wedelte mit den vormals klatschenden Händen. Machte in Halshöhe schneidende Bewegungen, ließ anschließend die Unterarme nach vorne schnellen, als würde er ein Fahrzeug dirigieren: Da geht’s raus! Auf! Auf!
    Der Typ legte die Kopfhöher ab, stand auf, war sofort sehr viel größer, der Alte trat ängstlich einen Schritt zurück, obwohl er sowieso weit außerhalb der Reichweite stand. Sagte nichts mehr, wedelte nur noch, dirigierte stumm.
    Abel sah hin oder nicht, er ging.

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