Alle Tage: Roman (German Edition)
geguckt. Wahrscheinlich deswegen.
Der Name des Fleischers war Carlo, und er kämpfte gegen die Pleite. Das Verschwinden der Arbeiterklasse zieht den Niedergang der Fleischer nach sich. Worum es geht, sind die Wurststullen. Man muss sehen, wie man über die Runden kommt. Sie kennen nicht zufällig jemanden, der ein Zimmer sucht?
Ein Raum, eine Toilette.
Als Bett diente ein ausziehbarer Sessel, dem man das nicht ansah, in der Ecke stand ein summender Kühlschrank, darauf eine Kaffeemaschine, in einem Regal versteckt ein Rechaud. Die Wände rochen nach Rauchfleisch, man hörte nebenan die Wurstmaschine arbeiten. Außerdem hörte man das Telefon, das ursprünglich hier gestanden hatte, jetzt direkt hinter der Wand im Flur. Wenn Carlo telefonierte, hörte man es murmeln. In dringenden Fällen wurden auch Nachrichten für den Untermieter entgegen genommen. Dann kam kurze Zeit später eine der allesamt weiblichen Angestellten in rotweißer Schürze herüber, klopfte je nach Naturell sanft oder energisch, richtete aus, was auszurichten war. Meistens schickten sie den Lehrling, ihr Name ist Ida, vom ersten bis zum letzten Tag verliebt in ihn, sie wagte ihn gar nicht anzuschauen, lief selbst so noch röter an als das Gulasch, das sie zu schneiden hatte. Gelegentlich kam, zu Idas Erleichterung und Trauer, der Fleischer persönlich, Schürze, Gummistiefeln, und blieb ein wenig. Von Zeit zu Zeit musste er wohl Zeit in seinem Büro verbringen. Eigentlich hätte er es nicht als Wohnraum vermieten dürfen, deswegen gab es auch keine Klingel. Falls Sie jemand fragen sollte, sagte er am frühen Morgen ihrer ersten Begegnung: Sie leihen sich nur das Büro. Abel nickte, ging nach Kingania zurück und holte seine Sachen.
Woran arbeiten Sie? fragte Carlo mit Blick auf den steinzeitlichen Laptop, den Abel irgendwann zwischen der Nacht im Computerraum und dem Besuch bei Tibor gekauft hatte. Sonst hatte er nicht viel dabei. Zwei, drei Bücher.
Eine Arbeit aus dem Bereich der komparativen Linguistik, antwortete Abel auf die Frage seines Vermieters.
Aha, sagte der Fleischer.
Er selbst interessierte sich für wenig mehr als Fleisch. Worüber er auch immer sprach, er tat es unter dem Aspekt des Fleisches. Sie sind doch kein Vegetarier? Er arbeitete an noch nie dagewesenen Wurstprototypen, marinierte und briet Fleisch und bat höflichst den Ausländer, er möge probieren, ob das wohl seinen Leuten schmecken würde. Seine Leute , das waren die erfreulich zahlreichen Fremden , die es neuerdings hier gibt, Carlo schätzt sie sehr, weil sie nicht so viel klagen, allgemein nicht und nicht über den Wurstgeruch, der ins Treppenhaus zieht, sie essen gerne Fleisch, und Carlo von seiner Seite würde ihnen gerne das Fleisch geben, das sie gerne essen. Hier hat er ein wenig mit Hackfleisch und scharfen Gewürzen experimentiert, so wie er es in Erinnerung hatte aus diesem Imbiss, in dem er neulich Probe essen war. Wie finden Sie es? Es – das war immer das Fleisch. Wenn er sagte: es , meinte er: Fleisch.
Abel Nema berührte mit seiner berühmten, zehnsprachigen Zunge die Fleischstücke. Sie wurde sofort taub.
Zu scharf?
Um die Wahrheit zu sagen, sagte Abel, ich habe so gut wie keinen Geschmackssinn.
Der Fleischer schaute nur.
Das ist die Wahrheit, sagte Abel. Ich spüre nur ganz intensive Geschmäcke. Also ist es nicht zu scharf.
Was eine Erklärung dafür wäre, wieso der Kerl wie ein Pfeifenreiniger aussieht. Andererseits glaubte ihm Carlo nicht so richtig.
War das immer schon so?
Ich erinnere mich nicht. Früher habe ich auf so etwas nicht geachtet.
Danach gab es nicht mehr viel zu sagen. Er lasse es dennoch hier, sagte Carlo. Es ist und bleibt ein Proteinlieferant.
Zu diesem Zeitpunkt war Abel N. sechsundzwanzig Jahre alt und lebte das erste Mal wirklich allein. Mit der Wurstmaschine, Carlo, Ida und den anderen Gummibestiefelten dicht an der Wand, aber dennoch. Auf den vernieselten Winter folgte ein ungewöhnlich warmer Frühling, der hauptsächlich damit verging, dass er sich einen neuen Alltag organisierte. Er beantragte und bekam ein Promotionsstipendium und ließ sich bei einem halben Dutzend Familien als Sprachlehrer der Kinder empfehlen.
Hier ist einiger Aufruhr zu registrieren. Kurzzeitig gab es eine regelrechte Manie (Mercedes, rückblickend) um ihn, ausgehend von einer unbekannten Mutter zweier Töchter.
Ist dir nichts aufgefallen?, er hat doch etwas, irgendwas hat er! Dieser Blick, dieses Schweigen, die Hände, wie sie
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