Alle vier Martin-Schlosser-Romane: Kindheitsroman - Jugendroman - Liebesroman - Abenteuerroman: Mit einem Vorwort von Frank Schulz (German Edition)
erinnerte.
Draußen fror es Stein und Bein. Und drinnen? Dieser leidige Rachenkatarrh hatte mir die ganzen Ferien versaut.
Ich legte die alte LP von Melanie auf.
Oh it must be hard lookin’ up at the sun
When you know in your heart
You may never be warm …
Dabei mußte ich an Mama denken.
Am späten Sonntagabend kam sie wieder an. Da lag ich schon im Bett und las Brecht, »Die Maßnahme«, ein Stück, in dem die Hinrichtung eines abtrünnigen Genossen gefeiert wird, der sich mit allen gegen ihn angewandten Maßnahmen einverstanden erklärt. Er wird dann erschossen und in eine Kalkgrube geworfen, woraufhin der »Kontrollchor« der kommunistischen Partei das Wort ergreift:
Und eure Arbeit war glücklich.
Ihr habt verbreitet
Die Lehren der Klassiker
Das Abc des Kommunismus …
Schauerlich. Meinem Herzen stand der alte Hurenbock Baal viel näher als dieser vernagelte Kontrollchor. Sonderbar, daß Brecht sowohl dies doktrinäre Zeugs als auch die größte Liebeslyrik schreiben konnte, so wie in der »Erinnerung an die Marie A.«:
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum …
Auf der Herzogstraße schmierte ich morgens mit dem Fahrrad auf dem Glatteis um, und die Zeitungsbündel schlidderten über die Straße.
Rücklicht abgebrochen. Klasse.
Wozu machst du das hier eigentlich, Schlosser, fragte ich mich, als ich die Bündel am Einsammeln war. Wozu? Wen interessiert das denn, ob die Idioten im Hasebrinkviertel beim Frühstück ihre Tagespest in den Pranken halten?
Am ersten Schultag nach den Herbstferien war Heike wie ausgewechselt. Sie habe sich gräßlich nach mir gesehnt, sagte sie, und in der großen Pause zog sie mich zu einer sichtgeschützten Stelle hinten bei den Fahrradständern und busselte mich ab und griff mir sogar kurz ans Familiensilber.
Zwei Neue aus der zwölften Jahrgangsstufe nahmen an der Redaktionssitzung der Schülerzeitung teil: Mona Feddersen und Thomas Korn. Die sahen uns erwartungsvoll an, doch es gab nicht viel zu tun. Wir warteten weiter auf die Genehmigung, die neue et cetera auf dem Schulgelände verkaufen zu dürfen.
Mir gefielen Mona Feddersens braune Augen sehr. Um nicht zu sagen: extrem. Aber mit Heike an meiner Seite und dem Redaktionskollegium um uns herum konnte ich mich ja auch nicht gut hinstellen und sagen: »Mensch, Mona, schön, daß es dich gibt! Wie wär’s mit uns?«
Zumal ich jetzt ja auch eher mal mit Heike was zu klären hatte. Wir rauften uns auf ihrer Matratze zusammen, und danach begleitete mich Heike auf dem Fahrrad bis vor meine Haustür, und weil es so schön war, begleitete ich Heike anschließend auf dem Fahrrad bis vor ihre Haustür, und Heike begleitete mich zurück bis vor meine Haustür.
Da war es halb elf, und ich mußte früh aus den Federn.
Heike sagte mir, daß sie mich liebe, und wir küßten uns, und dann radelte sie davon.
Was fehlte mir denn noch zum Glück?
Bestimmt nicht Deutsch. Wenn ich da eine Stunde lang ein Gedicht von Brecht vor der Nase gehabt hatte, konnte ich es nicht mehr leiden.
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Der Buddrich zeigte schnippend auf und sagte: »Mir scheint, daß es sich hier nur um rhetorische Fragen handelt.«
Buddrich, der Blitzmerker!
Ein starkes Brecht-Zitat hatte ich in konkret gefunden:
Ich richte Ihre Aufmerksamkeit darauf, daß Rilkes Ausdruck, wenn er sich mit Gott befaßt, absolut schwul ist.
Das hätte ich mal im Deutschunterricht anbringen müssen.
Am Nachmittag fuhr ich zu Heike, und da war sie schon wieder down. Sie finde unsere Beziehung zu einseitig, sagte sie, als wir bei ihr auf der Matratze hockten und Tee schlürften und Selbstgedrehte rauchten. »Du vermittelst mir irgendwie so das Gefühl, daß … irgendwie … ach, ich weiß auch nicht …«
Was war denn nun schon wieder los?
»Gestern ist doch noch alles so schön gewesen …«
»Ja, für dich ist immer alles schön!«
Ach? Und was war daran verkehrt?
Bis vor kurzem, sagte Heike, sei sie davon ausgegangen, niemals mit jemandem so viele und so wichtige Dinge besprochen zu haben wie mit mir. Aber es müsse wohl heißen, daß sie noch nie jemandem so viele und so wichtige Dinge anvertraut habe wie mir, und das sei eine unheimlich enttäuschende Erkenntnis. »Ich weiß eigentlich gar nichts über dich und deine
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