Alle Vögel fliegen hoch
erkennen, dass ihm das Schmerzen bereitete, und erklärte Sarah etwas. Die stupste ihn auf die Nase. Der Opa zog sie spielerisch an den Ohren. Sarah zog ihn auch an den Ohren, dann lachten sie beide. Mir stiegen Tränen in die Augen. Einen Opa hatte ich auch mal gehabt, leider nur kurz, so kurz, dass ich mich kaum mehr an ihn erinnern konnte, dafür hatte ich eine doppelte und dreifache Oma gehabt, die mir die ganze Familie ersetzte, und ich sagte leise Oma in den Heuschober, und allein das zu hören, tat unendlich gut und genauso weh. Oma. Ich sah mich selbst mit acht, neun, zehn Jahren an der Hand meiner Oma und aufschauen zu ihr. Ihre hellroten und später grauen Haare standen
in alle Richtungen ab. Fuchs hatte man sie in ihrer Jugend genannt. Ihre Hände waren groß und immer warm und ihre Finger krumm und meistens bräunlich von der Gartenarbeit. Abends, bevor wir ihren Schrebergarten verließen, und wenn die schon schattigen Beete frisch gegossen dufteten, zog sie eine Karotte aus dem Boden, hielt sie kurz unters Wasser und gab sie mir. »Gut für die Augen, Franzi«. Ich biss kräftig zu, es knackte und knirschte, und ich schluckte kleine Erdklumpen mit runter, weil »Dreck reinigt den Magen, Franzi«.
Ich ließ mich die zwei, drei Meter ins Heu fallen und blieb einfach liegen. Da war schon Flippers kalte Schnauze. »Alles okay?«, fragten seine klugen Augen.
Ich umarmte ihn, und wieder mal wäre es sehr schön gewesen, wenn ich mit ihm hätte sprechen können. Er hob eine Pfote und berührte meine Schultern, dann brummte er und wälzte sich im Heu, und bald war er über und über mit Halmen bedeckt, sodass ich gar nicht anders konnte als zu lachen. Und dann musste ich sie ihm natürlich aus dem Fell ziehen. Wie so oft stupste er mich ins Jetzt.
»Und wie sehe ich aus?«, fragte ich ihn.
Freundlich lächelte er mich an.
Ich strich über meine Haare, zog noch ein paar Halme heraus, klopfte meinen Po ab und ging langsam zur Schuppentür. Von Dämmmaterial, Styroporplatten oder zusammengerollter Isowolle keine Spur. Es gab Autoreifen und jede Menge Werkzeug, einen Rasenmäher, Spielzeugtraktoren, eine Werkbank, ein verschlissenes Sofa, eine Kettensäge, Dutzende von Umzugskartons, ein halb aufgeblasenes Kinderbassin und Gerümpel, das weiter hinten im Dunklen lagerte.
Es sah fast so aus, als hätte Klaus Hase hier gewohnt. Direkt neben der Eingangstür war ein Vogelkäfig befestigt. Er sah allerdings seltsam aus, er sah so aus wie… Ich stockte.… Wie hatte ich das vergessen können… Das musste ich dem Kommissar erzählen! Vielleicht gab es einen Zusammenhang? Es war schließlich am Dienstag passiert, als ich Klaus Hase gefunden hatte, vielleicht zwanzig, dreißig Minuten davor. Vielleicht …
»Ja, wen homma denn do?«
Flipper schlug einmal kurz an. Zu spät. Wenn er buddelte, war kein Verlass auf ihn.
Ich benahm mich völlig normal. »Grüß Gott, Herr Widmann. «
»Ja, die Frau Fischer! Schau o! Ja mia ham ja schon glaubt, sie wärn verschüttganga.«
Er streckte mir seine schwielige Hand entgegen. Diesmal war ich gewappnet, presste brachial zurück und bemühte mich weiterzulächeln, während er meine Hand mit Nachdruck zerquetschte.
»Wär ja auch kein Wunder, oder?«
»Wieso des?«
»Wie Sie mich beim letzten Mal verabschiedet haben! Der feine Apfelkuchen. In die Brennnesseln!«
»Mei Frau macht wieder oan. Jeden Sonntag. Und des können mia auch schriftlich fixieren.«
Allmählich fand er ins Hochdeutsche, das er anlässlich unserer offiziellen Verbindung wohl für angebracht hielt.
»Und wie schaut’s aus?«, wollte er wissen.
»Gut. Und bei Ihnen?«
»S’Haus ist fast leer. Nächste Woche fang ich mit dem Streichen an.«
»Und wer war der Besuch am Sonntag?«
»Frau Fischer: Ich schau nicht, wer Sie besucht, und Sie kümmern sich nicht drum, wer mich besucht. Vastängans?«
Ich nickte.
»Oiso?«, fragte Herr Widmann. »Wann ziangs ei?«
»So schnell schiasn Preißn ned.«
»A geh!«
»Woidl! Woidl! Woidl wo bist’n?… Ach! Ach, griaß Gott! Gestern erst hamma von Eana gredt.« Frau Widmann streckte ihre weiche warme Hand aus.
»Sie machen Rohrnudeln, gell?«, fragte ich.
»Ja, schon?«, fragend blickte sie zu ihrem Mann.
»Ich war vorhin an Ihrer Haustür. Da habe ich es gerochen. Ich habe auch gerufen. Aber niemand hat mich gehört.«
»Ich war im Keller bei der Waschmaschine«, antwortete Frau Widmann. »Die ist viel zu laut«, fügte sie hinzu und fixierte
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