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Alle Vögel fliegen hoch

Alle Vögel fliegen hoch

Titel: Alle Vögel fliegen hoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Seul
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der nicht sehr nach Physikprofessor aussah: kariertes Hemd unter braunem Pullunder. Strubbelig, als wäre er in den Wind gekommen, hockte er auf dem Gelände des Vogelschutzvereins vor einem kleinen Holzhäuschen am Wasser. »Das Schiften fängt erst um eins an, ich bin noch am Sortieren.«
    »Wir kennen uns«, sagte ich und trat näher. In vielen kleinen und größeren Plastikbehältnissen, meist leere Speiseeisschachteln, lagen verschiedene Vogelfedern, die der Waldschrat zärtlich glattstrich.
    »Ich kenne Sie nicht«, sagte er. »Und Robert Walser sagt: Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.«
    »Haben Sie das ganze Eis gegessen?«, fragte ich.
    »Ich kenne Sie nicht«, wiederholte er.
    »Na ja, kennen wär auch übertrieben.«
    »Wen kennt man schon«, sagte er.
    »Manchmal glaubt man, man kennt einen und kennt ihn nicht.«
    Der Waldschrat musterte mich neugierig. »Den Hund kenn ich vielleicht«, sagte er langsam. »Ist nicht jedes Erkennen ein Wiedererkennen? Woher wollen wir etwas
kennen, für das wir kein Vergleichsobjekt benennen können? «
    »Kennen Sie den?«, fragte ich und legte das Zeitungsbild von Klaus Hase auf den Tisch.
    Der Waldschrat nahm es in die Hand und hielt es sich vor die Augen. Dann schaute er mich an.
    »Da könnte mich ein jeder fragen, ob ich wen kenne.«
    »Klaus Hase heißt er«, sagte ich.
    »Kenn ich nicht.«
    »Aber das Bild kennen Sie«, behauptete ich. Ich war mir nicht sicher. Das Gesicht des Waldschrats – große, gebogene Nase, graue Augen wie ausgewaschene Kiesel – war so schwer zu entziffern wie das eines Wellensittichs.
    »Sie zum Beispiel«, sagte ich, »kenne ich auch von einem Bild aus der Zeitung. Aber ich habe Sie nur erkannt, weil es ein Wiedererkennen war, wir haben uns nämlich mal getroffen. «
    »Ach jetzt! Ich weiß! Sind Sie die Freundin von ihm?«, er wies auf das Bild.
    »Nein. Ich kenne ihn nicht.«
    »Komisch. Es war mir, als hätte er mal was von einer Freundin mit Hund erzählt. Doch, ganz bestimmt hat er das! Sie haben sich auf dem Falknerkurs kennengelernt, oder? In Mecklenburg-Vorpommern? Sie sind doch die mit dem großen Hund, die es nicht geschafft hat, die Falken mit frisch aufgetauten Eintagesküken zu füttern. Schlecht ist Ihnen geworden, gell, und einmal haben Sie sich übergeben in die Atzung. Das war nicht so angenehm für die anderen, also für ihn. Deshalb hat er es mir wohl auch erzählt. Aber wissen Sie, da muss man sich eben daran gewöhnen. Außerdem
haben es die kleinen Gockerl und Biberl immer noch besser als die Hennen, die müssen lebenslang Eier legen im Akkord und meistens im KZ. Man muss die Sache vom Ende her denken.«
    »Ich kauf keine Eier aus dem Hühner-KZ, und in Mecklenburg-Vorpommern war ich in meinem ganzen Leben noch nicht.«
    »So, so«, sagte der Waldschrat, als hätte er Beweise dafür, dass ich ihn anlog, und schaute wohlwollend zu Flipper, der mit klackerndem Gebiss nach einer lästigen Fliege schnappte. »Wenn ich mich recht erinnere, wollte er einen Vogelhund«, sinnierte er. »Mit dem geht man auf die Jagd. Der Vogelhund zeigt an, wo das Wild ist. Der Greif orientiert sich am Hund.«
    »Sie meinen, Vogel und Hund arbeiten zusammen – als Team?«
    »Dazu muss man die beiden natürlich ausbilden. Wenn das gelingt, ist es eine großartige Sache. Allein schon den wilden Vogel, der ja ein Raubtier ist, vertraut zu machen. Ihn zu zähmen, aber eben nur gerade so, dass er noch wild ist und trotzdem das macht, was man will.«
    »Mmh. Das hat bestimmt was.«
    Der Waldschrat musterte mich neugierig, oder vielleicht schaute er auch an mir vorbei. So genau konnte ich das in seinem Vogelgesicht nicht erkennen.
    »Und was machen Sie da mit den Federn?«, fragte ich und setzte mich ans Ende der Holzbank vor der kleinen Hütte.
    »Ich verbinde den Kiel einer beschädigten Feder mit einer gleichartigen unversehrten Feder, die aus der Mauser eines anderen Vogels stammt.«

    »Irgendeines Vogels?«
    »Nein, nein. Es muss der gleiche sein. Jede Feder hat eine eigene Form und ihren bestimmten Platz. Der Vogel soll ja nicht nur fliegen, sondern auch manövrieren können.«
    »Also sind Sie eine Art Vogeldoktor?«
    Der Waldschrat wies auf die Utensilien auf dem Tisch. Sekundenkleber, Plastikteile, Nadeln. »Eher ein Vogelmechaniker. «
    Ich fand den Mann ein bisschen merkwürdig. Und sympathisch. Flipper legte sich ins Platz. Sachte rollten kleine Wellen ans Ufer, die der Raddampfer über

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