Alle Wege führen nach Rom: Die ewige Stadt und ihre Besucher (German Edition)
Ein anderer Fall: «Der Domestik eines Mannes aus Lyon erhielt drei Messerstiche, an denen er starb; der Mörder rettete sich in eine Kirche. Jedes Jahr kommen im Kirchenstaat unendlich viele Morde vor, mehr noch als in Rom. Die sichere Straflosigkeit, eine Kirche, die sie bestimmt finden werden, ermutigt sie.» Montesquieus Bemerkungen treffen ins Schwarze. Wenn ein Römer ein Unrecht erlitten zu haben glaubte, griff er in der Tat ohne Zögern zur Selbstjustiz mit dem Messer, und zwar nicht, weil er einen besonders leidenschaftlichen oder impulsiven Charakter gehabt hätte, sondern in der nicht ganz unberechtigten Überzeugung, dass er schwerlich von den öffentlichen Gewalten eine Bestrafung befürchten musste. Da andererseits die Polizei und die Justiz ebenso gefürchtet waren wie die Delinquenten, suchten sich auch deshalb die Geschädigten oft selbst Recht zu verschaffen. Dieser allgemein geteilten Auffassung entsprang auch die Gleichgültigkeit gegenüber den Bluttaten im täglichen Leben der Stadt. Die unglaubliche Häufigkeit der Morde stand nach Montesquieus Meinung im Zusammenhang mit der weit verbreiteten Korruption. In einer Stadt, in der man alles kaufen oder verkaufen konnte, vor allem weltliche und mehr noch kirchliche Ämter, herrschte das Verbrechen. Dieser Zustand machte es dem Kardinalskollegium unmöglich, einen Papst zu wählen, der in der Lage war, den Kirchenstaat zu regieren (Abb. 13).
Als Montesquieu in Rom war, regierte Papst Benedikt XIII., der, wie er schreibt, bei seinen Untertanen höchst verhasst war, weil er nur seine Heimatstadt Benevent, eine päpstliche Enklave im Königreich Neapel, im Auge hatte, wohin alle finanziellen Ressourcen des Kirchenstaats flossen, während die Römer darbten. Der Papst, ein Dominikaner mit dem weltlichen Namen Pierfrancesco Orsini, stammte aus einem neapolitanischen Zweig der alten römischen Adelsfamilie. 1672 zum Kardinal erhoben, war er, bevor er 1724 zum Papst gewählt wurde, ab 1686 fast vierzig Jahre lang Erzbischof von Benevent gewesen. Er war ein glaubensstarker Mann und guter Theologe, beging aber den schwerwiegenden Fehler, sich bei der Regierung der Kirche auf eine Handvoll Schurken aus Benevent zu stützen, angeführt von Niccolò Coscia, einem seiner alten Mitarbeiter im Erzbistum. 1725 wurde Coscia zum Kardinal erhoben. Danach leitete er praktisch während des ganzen Pontifi kats seines Gönners (1724–1730) die Verwaltung und die Politik des Kirchenstaats, wobei er Unterschlagungen aller Art beging. Benedikt XIII. ging völlig in seinen Andachtsübungen und theologischen Interessen auf und kümmerte sich wenig um die Regierung, sodass Coscia und seine Beneventer es immer wüster trieben. Montesquieu fällt ein überaus hartes Urteil über Coscia, den er für alle Schandtaten der Beneventer verantwortlich machte, wobei Anschuldigungen mitschwingen, die einige befreundete Kardinäle gegen den Papst erhoben. Sehr viel ausgewogener dagegen ist das Urteil eines Pietro Giannone, obwohl er von Benedikt XIII. wegen seines Geschichtswerks verfolgt wurde. Seine Storia civile del regno di Napoli war wegen ihres heftigen Antiklerikalismus und der scharfen Polemik gegen die Kirchenpolitik im Königreich Neapel ins Visier geraten. Giannone hielt Benedikt XIII. dennoch für ein Opfer der Beneventer und ihrer Machenschaften sowie seiner dominikanischen Berater mit ihrer theologischen Intransigenz. Doch im Gegensatz zu den Ganoven in Rom, die meist ungeschoren davonkamen, kam Giannone ins Gefängnis, allerdings erst auf Betreiben von Benedikts Nachfolger Clemens XII. Als Montesquieu erfuhr, dass Clemens XII. Coscia nach dem Tod Benedikts XIII. wegen dessen Veruntreuungen zur Zeit seines Vorgängers vor Gericht gestellt hatte, schrieb er am 1. März 1730 einen enthusiastischen Brief an seinen römischen Freund Gaspare Cerati, in dem er die Befreiung Roms von der Beneventer Tyrannei pries, ohne jedoch den Anteil Benedikts XIII. zu erwähnen. Er war offenbar der Überzeugung, dass dieser die Misswirtschaft nicht mitgetragen, sondern nur toleriert hatte.
Abb. 13: Giovanni Battista Falda, Vedute der Kolonnaden von Sankt Peter, 1665
Das Elend und die Armut, die zur Zeit Benedikts XIII. überall in Rom herrschten, hatten die Römer in einen demütigenden Zustand versetzt. Die unverschämteste Bettelei war gang und gäbe. Man konnte niemanden besuchen, ohne dass die Diener des Hauses ein Almosen verlangt hätten. Die Majestät des römischen
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