Alle Wege führen nach Rom: Die ewige Stadt und ihre Besucher (German Edition)
Volks, von dem Titus Livius einst geschrieben hatte, war zu einem Trugbild ferner Zeiten geworden. Das römische Volk teilte sich, wie Montesquieu schreibt, in zwei Kategorien auf, die Prostituierten und die Steigbügelhalter. Die alte, ruhmvolle Abkürzung S.P.Q.R. – Senatus Populusque Romanus – wurde jetzt so aufgelöst: «Sono tutte puttane queste romane» – diese Römerinnen sind alle Huren. Von diesem Aspekt der römischen Sitten sah und erzählt Montesquieu erstaunliche Dinge: Aus der Tatsache, dass in Rom die Geistlichkeit herrschte, ergaben sich nicht unerhebliche Folgen für das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Das Zölibat, welches das kanonische Recht den Geistlichen auferlegte, war nicht unbedingt mit der Keuschheit verbunden, sondern nur ein Ehehindernis. Und da der Reichtum sich zum größten Teil in den Händen der Geistlichkeit befand, verfügte diese nach Belieben über die Frauen. Mit dem ihm eigenen Interesse an den gesellschaftlichen Verhältnissen berichtet Montesquieu von einigen konkreten Fällen, in denen immer die Figur eines zum Zölibat verpflichteten Prälaten im Mittelpunkt steht: Dieser bezahlt für das Mädchen, das die Eltern ihm anbieten, die Mitgift, damit es einen Ehemann findet, den der Prälat gewöhnlich unter seinen Domestiken auswählt, damit das Verhältnis weitergehen kann. Oder aber man sucht, wenn ein Mädchen heiratet, sofort einen Prälaten oder noch besser einen Kardinal, der sie unterhalten kann. Den Höhepunkt erreicht dieser Handel, wenn der Ehemann selbst seine Frau feilbietet. Über die Figur des freiwillig Gehörnten findet Montesquieu saftige Worte: «Es gibt nichts Gewöhnlicheres als Ehemänner, die ihre Frauen gegen Geld oder Protektion verkaufen. Die Römer, die dem niedrigen Bürgertum angehören, arbeiten überhaupt nicht und wollen es auch nicht. Manchmal behütet und schließt ein eifersüchtiger Ehemann seine junge Frau ein Jahr lang ein; danach aber wird er dessen überdrüssig. Der Magistrat läßt so viel Ehen wie möglich im Volk schließen. Sobald ein Bursche in einem Haus verkehrt, lassen ihn Vater und Mutter von der Polizei ergreifen, und der Magistrat zwingt ihn dann zu heiraten. Danach ist es der Frau erlaubt, eine gute Kokotte zu sein. Anders ist es bei den unverheirateten Mädchen. Man erzählt, daß Ottoboni an die sechzig bis siebzig Bastarde habe.» Pietro Ottoboni, Urenkel von Papst Alexander VIII., war einer der mächtigsten Kardinäle zu Beginn des 18. Jahrhunderts.
In einer Situation, in welcher der weibliche Körper nur noch als Ware angesehen wurde, hatten die Frauen natürlich in der Gesellschaft nichts zu bestimmen. Dies war einer der ersten Eindrücke Montesquieus in Rom, als er feststellte, dass nur die Geistlichen hier etwas zählten. Ähnlich war die Lage im Theater, wo auf der Bühne die Frauenrollen allgemein von Männern in Frauenkleidern gespielt wurden. Als Folge davon konnte man häufig erleben, wie homosexuelle Leidenschaften, vor allem zu den im Theater häufig auftretenden Kastraten, ausbrachen. Montesquieu wurde selbst Zeuge davon und berichtet darüber mit einem gewissen Vergnügen: «Zu meiner Zeit gab es im Theater Capranica in Rom zwei kleine, als Frauen verkleidete Kastraten, Mariotti und Chiostra, welche die schönsten Kreaturen waren, die ich je im Leben sah, und die Gomorrha-Gelüste auch in den in diesem Sinne am wenigsten Lasterhaften geweckt hätten. Ein junger Engländer, der einen dieser Kastraten für eine Frau hielt, entbrannte in rasender Liebe zu ihm, und man ließ ihn in dieser Leidenschaft mehr als einen Monat lang schmachten.» Das Theater erfreute sich größter Beliebtheit, beim niedrigen Volk wie bei den Abbés, die, wie Montesquieu ironisch anmerkt, es aufsuchten, um dort ihre Theologie zu studieren.
Die beiden Kastraten, die Montesquieu hörte, hießen mit vollem Namen Mattia Mariotti, genannt Giannottino, und Giovanni Simone Chiostra. Sie sangen die Frauenrollen in zwei komischen Opern, die während des Karnevals 1729 im Teatro Capranica gegeben wurden. Die eine, erstmals am 8. Januar aufgeführte Oper, La Costanza, war ein Werk des Komponisten Giovanni Fischetti, Kapellmeister in Neapel, nach einem Libretto von Bernardo Saddumene, die zweite, die am 7. Februar Premiere hatte, war La somiglianza betitelt. Musik und Libretto dieser Oper stammten von zwei völlig obskuren Neapolitaner Künstlern, und neapolitanisch waren auch das Thema und die Szenerie der beiden Opern. Auch
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