Alle Wege führen nach Rom: Die ewige Stadt und ihre Besucher (German Edition)
2. September schickte er aus Rom eine Postkarte an seine Frau Martha, in der er ihr triumphierend mitteilte, «Römer geworden» zu sein, und dass es ihm unbegreiflich vorkomme, nicht früher nach Rom gereist zu sein. Er wollte offenbar seiner Frau die wahren Gründe dieser Verzögerung, die er kurz zuvor in der Traumdeutung verraten hatte, nicht eingestehen. In der zweiten Postkarte war er etwas offener. Er schrieb ihr, vor dem Pantheon zu stehen, obwohl er dies lange gefürchtet habe. Im Petersdom war er schon gewesen. Vielleicht hatte er den Stier gleich bei den Hörnern packen und furchtlos dem Feind ins Auge blicken wollen. Am 4. September erzählte er, die Hand in die «Bocca della Verità» gesteckt zu haben, so wie es Touristen bis heute tun.
Er schickte weiterhin Postkarten nach Hause, um von den Schönheiten Roms, die er gesehen hatte, zu schwärmen – natürlich vor allem von antiken (Abb. 26). Schließlich schrieb er am 19. September auch an Fließ einen langen Brief über die Erfüllung seines Lebenstraums, wobei er einige Punkte näher erläuterte, die das in der Traumdeutung Gesagte bestätigen: «Nun sollte ich Dir über Rom schreiben; es ist schwer. Es war auch für mich überwältigend und die Erfüllung eines, wie Du weißt, lange gehegten Wunsches. Wie solche Erfüllungen sind, etwas verkümmert, wenn man zu lange auf sie gewartet hat, aber doch: ein Höhepunkt des Lebens. Während ich aber ganz und ungestört bei der Antike war (das Stückchen Minervatempel neben dem Nervaforum hätte ich in seiner Erniedrigung und Verstümmelung anbeten können), ist mir freier Genuß des zweiten Rom nicht möglich geworden, die Tendenz hat mich gestört, unfähig mein Elend und alles andere, von dem ich weiß, in Gedanken loszuwerden, habe ich die Lüge von der Erlösung der Menschheit, die so himmelragend ihr Haupt erhebt, nicht gut vertragen.»
Abb. 26: Postkarte Freuds aus Rom
Damit wird die Sache klar: Die starke Anziehungskraft, die Rom auf Freud ausübte, war zutiefst mit dem quälenden Problem des Antisemitismus verquickt, der in einem erzkatholischen Land wie Österreich, in dem er lebte, für einen Juden wie ihn völlig unerträglich war. Freud spürte die bedrückende Judenfeindlichkeit auch im eigenen täglichen Leben und schrieb die Hauptverantwortung dafür zu Recht der katholischen Kirche mit ihrem programmatischen Antijudentum zu. Dieses gab dem Antisemitismus, der auf allen Juden, die das Unglück hatten, in einem engstirnig katholischen Land wie Österreich zu leben, schwer lastete, immer neue Nahrung. Deshalb auch Freuds heftige Abneigung gegen das christliche Rom, das ihm als das Zentrum erschien, von dem aus sich dieser Antisemitismus wellenartig ausbreitete. Nun aber, da er die Gründe seiner Abneigung begriffen hatte, fiel ihm der Aufenthalt in Rom leichter. Er kehrte nach diesem ersten Besuch noch sechsmal in die ewige Stadt zurück. Immer aber galt sein Hauptinteresse dem antiken Rom, über das er sich mit der Zeit gründliche Kenntnisse erwarb, wie man es in seiner Altersschrift Das Unbehagen in der Kultur von 1930 nachlesen kann. In dieser sind einige Seiten den antiken Überresten der Stadt gewidmet, die zeigen, wie gut er die noch sichtbaren Ruinen in ihrem historischen Umfeld studiert hatte.
Während seines Rombesuchs im Jahr 1907 machte er einen Spaziergang in der Villa Borghese und stand plötzlich vor dem Goethe-Denkmal, das Kaiser Wilhelm II. 1904 der Stadt Rom geschenkt hatte (Abb. 27). Verschiedene Dinge fielen ihm daran auf, von denen er ausführlich am 21. September in einem Brief seiner Familie berichtete. Die Statue, schrieb er, «ist ganz geschickt und nichts Hervorragendes. Goethe (…) steht auf einem Säulenschaft, vielmehr einem Kapitell, und das Postament ist von drei Gruppen umgeben: Mignon mit dem Harfner, der vielleicht das beste ist, Mignon selbst hat ein leeres Gesicht, Faust in einem Buch lesend, dem Mephisto über die Achsel schaut, Faust wieder gut, der Teufel ganz fratzenhaft, ein Judengesicht mit Hahnenkamm und Hörnern, und eine dritte Gruppe, die ich nicht verstehe, vielleicht Iphigenie und Orest, aber dann sehr unkenntlich.» Freud beschreibt das Denkmal ziemlich exakt und sein ästhetisches Urteil ist durchaus zutreffend, doch kam Freud beim Teufel sein Problem mit dem deutschen (diesmal nicht römisch katholischen) Antisemitismus in die Quere. Die Figur des Teufels wurde seit dem Mittelalter in der Kunst ganz Europas auf ähnliche Weise
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