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Alle Wege führen nach Rom: Die ewige Stadt und ihre Besucher (German Edition)

Alle Wege führen nach Rom: Die ewige Stadt und ihre Besucher (German Edition)

Titel: Alle Wege führen nach Rom: Die ewige Stadt und ihre Besucher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Zapperi
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1913 alltäglich in der Kirche vor der Statue gestanden, habe sie studiert, gemessen, gezeichnet, bis mir jenes Verständnis aufging, das ich in dem Aufsatz doch nur anonym auszudrücken wagte. Erst viel später habe ich dieses nicht analytische Kind legitimiert.» In der Tat erschien der Aufsatz Der Moses des Michelangelo anonym 1914 in Freuds Zeitschrift Imago , und erst 1924, zehn Jahre später, bekannte sich Freud öffentlich zu seiner Autorschaft. Meines Wissens sind die Gründe für dieses Versteckspiel nie richtig geklärt worden. Deshalb will ich versuchen, ihnen nachzuspüren.
    In seinem Aufsatz erklärt Freud die Bedeutung der Statue, indem er sie in Zusammenhang mit der Führerrolle des Moses nach der Befreiung des jüdischen Volks aus der ägyptischen Gefangenschaft setzte. Seiner Erkenntnis nach hatte Michelangelo Moses in dem Moment dargestellt, als dieser entdeckt, dass sein Volk der primitivsten Idolatrie huldigt, und er sich deshalb anschickt, es in einem Anfall heftigsten Zorns hart zu bestrafen: Er will die Gesetzestafeln zerbrechen, die sein Leben regulieren. Freud stellte jedoch fest, dass Moses sich zügelt, dass er es vermeidet, seinem berechtigten Zorn freien Lauf zu lassen, weil das jüdische Volk schließlich sein eigenes ist und er es führen muss auf seinem Weg aus der ägyptischen Gefangenschaft. Freud beschreibt diesen Moment auf folgende Weise: Michelangelo «hat das Motiv der zerbrochenen Gesetzestafeln umgearbeitet, er läßt sie nicht durch den Zorn Moses’ zerbrechen, sondern diesen Zorn durch die Drohung, daß sie zerbrechen könnten, beschwichtigen oder wenigstens auf dem Weg der Handlung hemmen. Damit hat er etwas Neues, Übermenschliches in die Figur des Moses gelegt, und die gewaltige Körpermasse und kraftstrotzende Muskulatur der Gestalt wird nur zum leiblichen Ausdrucksmittel für die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat.» Damit wird aber noch nicht klar, warum Freud sich nicht als Autor zu erkennen geben wollte. Ein verdeckter Hinweis auf die Gründe findet sich im Moses-Aufsatz selbst, wo es im letzten Paragraphen heißt: «Es war eine Gelegenheit, wieder an der eigenen Person zu erfahren, was für unwürdige infantile Motive zu unserer Arbeit im Dienste einer großen Sache beizutragen pflegten.» Der Hinweis auf ein seelisches Phänomen, das er bereits in der Traumdeutung behandelt hatte, könnte trotz des Zusammenhangs, in dem es hier steht, ein Indiz dafür sein, dass auch seine Beschäftigung mit der Mosesfigur sich aus solchen «unwürdigen» kindlichen Quellen speiste.

    Abb. 29: Michelangelo, Moses, um 1513/15, San Pietro in Vincoli
    Kehren wir also noch einmal zur Traumdeutung und zu der Episode zurück, die der Vater dem zwölfjährigen Freud erzählt hatte: Ein Christ hatte dem Vater, einzig weil er Jude war, die Pelzmütze vom Kopf geschlagen, und dieser hatte nicht etwa reagiert, sondern hatte ruhig die Mütze wieder aufgehoben und aufgesetzt. Den Knaben Freud hatte dieses passive Verhalten sehr enttäuscht, zumal der Vater groß und stark war. Der junge Sigmund hatte gewünscht, dass der Vater auf diesen Affront ganz anders reagiert, dem Christen zum Beispiel eine Ohrfeige versetzt hätte. Seitdem hegte er ein Ressentiment gegenüber dem Vater, der nicht fähig gewesen war, sich gegen einen Judenhasser zur Wehr zu setzen, Gefühle, die er jetzt als Erwachsener für «unwürdig» halten musste. In der Traumdeutung hatte er hinzugefügt, dass Hannibals Vater seinen Sohn hatte schwören lassen, sich an den Römern zu rächen, während die Juden, die er selbst kannte, sich nicht wehrten, wenn die Christen sie drangsalierten. Diese Erkenntnis bewirkte in ihm Zorn gegenüber den Juden, so wie Moses heftigen Zorn verspürt hatte, als er sah, wie sein Volk den Götzen nachlief. Freud hatte erkannt, dass der Moses Michelangelos diesen Zorn zügelte, so wie Freud jetzt sein Ressentiment gegenüber dem Vater zügelte.
    Freuds intensive Beschäftigung mit der Mosesfigur war also eng mit der problematischen Lage der Juden verbunden wie auch mit dem in der Kindheit entstandenen Ressentiment gegenüber dem jüdischen Volk, das seit Jahrhunderten die tausendfachen Quälereien und Verfolgungen der Christen erduldete, ohne sich zu wehren. Von diesen Gefühlen mochte er aber 1914 noch nichts preisgeben, handelte es sich doch um den

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