Alle Wege führen nach Rom: Die ewige Stadt und ihre Besucher (German Edition)
der vollzieht die Prokynesis vor dem zäsarenwahnsinnigen Koloß auf blutigen [Füßen].» Diese Ideen waren zweifellos nicht sehr hilfreich für eine Reise nach Italien, im Laufe seines Aufenthaltes dort siegte dann aber doch die alte Liebe.
Die erste Begegnung, von der im Tagebuch berichtet wird, fand in Bologna statt, wo die Reisenden, von Mailand kommend, am 28. September 1928 eintrafen und zehn Tage blieben. Hier lernte Warburg den Germanisten Lorenzo Bianchi, Professor für deutsche Literatur an der Universität Bologna, kennen, der ihn während seines Aufenthalts in der Stadt besuchen kam. Die Unterhaltung wurde sofort sehr lebhaft, als das Thema Faschismus angeschnitten wurde; dieser war in ganz Europa Gesprächsstoff, seit nach dem Marsch auf Rom im Oktober 1922 die Faschisten die Herrschaft in Italien an sich gerissen hatten. Warburg notierte im Tagebuch: «Ich erhielt Material zur Correctur meiner bisherigen Auffassung.» Bianchi hatte ihm erzählt, dass die Situation vor dem Faschismus eine «Pöbelherrschaft» gewesen sei und zur Erläuterung eine Episode angeführt, die seine Frau erlebt hatte. Diese sei, so Bianchi, von einer drohenden Menge daran gehindert worden, in eine Trambahn zu steigen, nur weil sie einen Hut trug. Bianchi hatte sie «mit dem schußfertigen Revolver» aus der Menge befreien müssen. Der Germanist suchte auch, Mussolini vor einigen Anschuldigungen in Schutz zu nehmen, von denen man auch in Deutschland gehört hatte: Das Verhältnis Mussolinis zur katholischen Kirche habe gar nichts mit Klerikalismus zu tun, sagte er, Giovanni Gentile, der faschistische Philosoph und Mussolinis rechte Hand, verfechte die Ideale der Französischen Revolution, von denen auch Mussolini herkomme, ebenso wie er den Ideen Nietzsches folge. Zur Sprache kam auch der Fall des von Faschisten ermordeten Sozialisten Giacomo Matteotti: Es stimme nicht, dass dieser Mord «als nicht strafbar» angesehen worden sei. Warburg merkt an, dass er sich nie so gut und so schnell mit einem Kollegen «zusammengefühlt» habe wie mit Bianchi. Bianchis Erzählungen erinnerten Warburg unweigerlich an seine eigenen Hamburger Erfahrungen, als er gegen Ende des Konflikts hatte einsehen müssen, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Er hatte die militärischen Ereignisse mit Bangen verfolgt, jetzt sah er, wie die alte Ordnung sich auflöste und die Revolution, die im nahen Kiel ausgebrochen war, Deutschland ins Chaos zu stürzen drohte. Damals war seine psychische Gesundheit zusammengebrochen, weshalb er in der Folge viele Jahre in einer psychiatrischen Klinik verbringen musste.
In Wahrheit hatte Bianchi Warburg eine Menge Märchen erzählt. Er muss einer der vielen Universitätsprofessoren gewesen sein, die, wie es verlangt war, in die Faschistische Partei eingetreten waren, und scheint wie viele seiner Kollegen mit dem Faschismus sympathisiert zu haben. Wie weit er verwickelt war, ließ sich nicht feststellen. Die historische Forschung hat nachgewiesen, dass die Dinge ganz und gar nicht so standen, wie Bianchi sie Warburg darstellte. So entspricht es keineswegs der Wahrheit, dass vor Mussolini der Pöbel das Land im Griff hatte. Die Bewegung der rebellierenden Arbeiter- und Bauernmassen gipfelte 1920 in der Besetzung der Fabriken, aber danach ergriff die Regierung, die in den erfahrenen Händen von Giovanni Giolitti, dem bedeutendsten italienischen Politiker des 20. Jahrhunderts, lag, einige sehr kluge Maßnahmen, welche die subversiven Tendenzen blockierten und die Ordnung wiederherstellten. Dennoch blieb der Bourgeoisie der Schrecken in den Knochen sitzen, was den Aufstieg und die Machtergreifung des Faschismus begünstigte. Die Behauptung, dass Gentile und Mussolini den Idealen der Französischen Revolution verhaftet gewesen seien, entbehrt jeder Grundlage, und was Nietzsche betraf, so handelte es sich jedenfalls um eine Verfälschung und Verzerrung seines Denkens, die mit dem wahren Nietzsche nicht das Geringste zu tun hatten. Bekanntlich erfreute sich damals, wie auch in Deutschland, eine Sammlung von Nietzsches Schriften mit dem bezeichnenden Titel Der Wille zur Macht großer Beliebtheit, die seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche zusammengeschustert hatte und die wenig mit den wahren Ideen Nietzsches zu tun hatte.
Auch mit Bezug auf den Mord an Matteotti gab Bianchi eine Version, die wenig den Tatsachen entsprach. Der Abgeordnete Giacomo Matteotti, Sekretär der Vereinigten Sozialistischen Partei, war
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