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Alle Weihnachtserzählungen

Alle Weihnachtserzählungen

Titel: Alle Weihnachtserzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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mir sagen höre: ‚Hallo, da kommt ’n hohes Tier!‘, weiß ich nich, wohin ich sehen soll. Und als der Bettler gestern abend nich weggehen wollte und auf meine Worte, daß ich ’n einfacher Mann wär, sagte: ‚Nein, Euer Gnaden! Hol Euer Gnaden der Teufel, sagen Sie das nicht!‘, war ich ziemlich beschämt. Ich hatte wirklich das Gefühl, daß ich nicht das Recht habe, ihn zu tragen.“
    Glückliches blindes Mädchen! Wie fröhlich sie in ihrem Triumph war!
    „Vater, ich sehe dich genauso deutlich“, sagte sie und faltete die Hände, „als ob ich die Augen hätte, die ich nie brauche, wenn du bei mir bist. Ein blauer Mantel …“
    „Leuchtend blau“, sagte Caleb.
    „Ja, ja! Leuchtend blau!“ rief das Mädchen aus, ihr strahlendes Gesicht nach oben richtend. „An die Farbe kann ich mich vom lieben Himmel her erinnern! Du hast gesagt, er war vorher blau! Ein leuchtend blauer Mantel …“
    „Locker sitzend“, schlug Caleb vor.
    „Locker sitzend“, rief das blinde Mädchen, herzhaft lachend, „und du dadrin, lieber Vater, mit deinen lustigen Augen, deinem lächelnden Gesicht, deinem flotten Schritt und dunklen Haar – du siehst so jung und hübsch aus!“
    „Hallo, hallo!“ sagte Caleb. „Ich werde gleich eitel!“
    „Ich glaube, das bist du schon“, rief das blinde Mädchen und wies in ihrer Heiterkeit auf ihn. „Ich kenne dich, Vater! Hahaha! Siehst du, ich habe dich durchschaut!“
    Wie abweichend war das Bild, was sie sich von Caleb machte, von dem, wie er dasaß und sie beobachtete! Sie hatte von seinem flotten Schritt gesprochen. Sie hatte recht damit. Seit Jahren hatte er nicht ein einziges Mal diese Schwelle mit dem ihm eigenen langsamen Gang übertreten, sondern mit einem Schritt, der ihrem Ohr vorgetäuscht wurde. Und niemals hatte er, auch wenn das Herz noch so schwer war, den leichten Tritt vergessen, der den ihren so fröhlich und beherzt machen sollte!
    Weiß Gott! Aber ich glaube, Calebs verwirrtes Benehmen kann zum Teil daran gelegen haben, daß er wegen der Liebe zu seiner blinden Tochter sich selbst und alles um ihn herum in Unordnung gebracht hat. Wie konnte der kleine Mann sonst sein, wenn nicht verwirrt, nachdem er sich so viele Jahre bemüht hatte, seine eigene Persönlichkeit und die all jener Dinge zu zerstören, die Bedeutung für ihn besaßen!
    „Da sind wir nun der richtigen Sache so ähnlich wie ein Ei dem andern“, sagte Caleb und trat einen oder zwei Schritte zurück, um seine Arbeit besser begutachten zu können. „Wie schade, daß sich die ganze Vorderfront des Hauses auf einmal öffnet! Wenn es wenigstens eine Treppe und richtige Türen hätte, durch die man die Zimmer betritt! Aber das ist das schlimmste an meinem Beruf, daß ich mir immer etwas vormache und mich selbst betrüge.“
    „Du sprichst ziemlich leise. Du bist doch nicht müde, Vater?“
    „Müde!“ wiederholte Caleb mit einem Ausbruch von Lebhaftigkeit. „Was sollte mich müde machen, Bertha? Ich war noch nie müde. Was bedeutet das überhaupt?“
    Um seinen Worten größeren Nachdruck zu verleihen, unterbrach er seine unwillkürliche Nachahmung zweier gähnender und sich rekelnder Halbfiguren auf dem Kaminsims, die von der Taille aufwärts im Zustand ewiger Müdigkeit dargestellt waren, und summte ein Stückchen eines Liedes. Es war ein Trinklied, etwas über einen funkelnden Becher. Er sang es mit einer dreisten, verwegenen Stimme, die sein Gesicht noch tausendmal hagerer und nachdenklicher wirken ließ.
    „Was denn! Sie singen?“ sagte Tackleton, der den Kopf zur Tür hereinsteckte. „Immer feste! Ich kann nicht singen.“ Das hätte auch niemand von ihm erwartet. Sein Gesicht ließ in keiner Weise an frohe Lieder denken.
    „Ich kann es mir nicht leisten zu singen“, sagte Tackleton.
    „Ich freue mich, daß Sie es können. Hoffentlich können Sie es sich auch leisten zu arbeiten. Die Zeit wird kaum für beides langen, nehme ich an.“
    „Wenn du bloß sehen könntest, Bertha, wie er mir zublinzelt!“ flüsterte Caleb. „So ein Spaßmacher, würdest du denken, wenn du nicht wüßtest, daß er es ernst meint, stimmt’s?“
    Das blinde Mädchen lächelte und nickte.
    „Der Vogel, der singen kann und nicht singen will, muß zum Singen gebracht werden, sagt man“, brummte Tackleton. „Wie steht’s mit der Eule, die nicht singen kann und nicht singen sollte, aber singen will? Gibt es etwas, wozu sie gebracht werden sollte?“
    „Wie stark er mir in diesem Moment zublinzelt!“

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