Alle Weihnachtserzählungen
heute morgen nich zu Hause bleiben“, sagte Caleb. „Sie hatte Angst, das weiß ich, die Glocken läuten zu hören, und traute sich nich, am Hochzeitstag so in deren Nähe zu sein. Deshalb brachen wir rechtzeitig auf und kamen hierher. Ich hab darüber nachgedacht, was ich angerichtet hab“, sagte Caleb nach kurzer Pause; „ich hab mir selbst wegen der Seelenpein, die ich ihr zugefügt hab, Vorwürfe gemacht, bis ich kaum noch wußte, was ich tun oder wohin ich mich wenden sollte. Und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich lieber die Wahrheit sagen will, wenn Sie währenddessen bei mir bleiben würden, Madam. Wollen Sie in der Zeit bei mir bleiben, Madam?“ fragte er, am ganzen Leibe zitternd. „Ich weiß nich, welche Wirkung es auf sie ausüben wird. Ich weiß nich was sie von mir denken wird. Ich weiß nich ob sie ihren armen Vater hinterher noch gern haben wird. Aber es is das beste für sie, wenn sie aufgeklärt wird, und ich muß eben die Folgen tragen, wie ich es verdiene.“
„Mary“, sagte Bertha, „wo ist deine Hand? Aha, hier ist sie, hier ist sie.“ Lächelnd preßte sie sie an die Lippen und zog sie durch ihren Arm. „Gestern abend hörte ich, wie sie leise untereinander Vorwürfe gegen dich aussprachen. Sie hatten unrecht.“
Die Frau des Fuhrmannes schwieg. Caleb antwortete für sie.
„Sie hatten unrecht“, sagte er.
„Ich wußte es“, rief Bertha stolz. „Das habe ich ihnen gesagt. Ich weigerte mich, ein einziges Wort zu hören! Sie zu Recht tadeln.“ Dabei drückte sie ihre Hand und preßte die zarte Wange an ihr Gesicht. „Nein. So blind bin ich auch wieder nicht.“
Ihr Vater ging an der einen Seite, während Pünktchen an der anderen ging und ihre Hand hielt.
„Ich kenne euch alle besser, als ihr denkt“, sagte Bertha. „Doch keinen so gut wie sie. Nicht einmal dich, Vater. Es gibt nichts um mich herum, was nur halb so natürlich und wahr ist wie sie. Wenn ich in diesem Moment mein Augenlicht wiederbekäme und kein Wort gesprochen würde, könnte ich sie aus einer großen Menge herausfinden. Meine Schwester.“
„Bertha, mein Liebes“, sagte Caleb, „mir liegt was auf der Seele, was ich dir erzählen möchte, während wir drei allein sind. Hör mich freundlicherweise an. Ich hab dir ein Geständnis zu machen, mein Liebling.“
„Ein Geständnis, Vater?“
„Ich bin von der Wahrheit abgewichen und hab mich verirrt, mein Kind“, sagte Caleb mit einem bedauernswerten Ausdruck in seinem bestürzten Gesicht. „Ich bin von der Wahrheit abgewichen, weil ich es gut mit dir meinte, bin aber grausam gewesen.“
Sie wandte ihm ihr erstauntes Gesicht zu und wiederholte: „Grausam!“
„Er klagt sich selbst zu hart an, Bertha“, sagte Pünktchen. „Du wirst das auch gleich sagen. Du wirst die erste sein, die ihm das sagt.“
„Er grausam zu mir?“ rief Bertha, ungläubig lächelnd. „Das wollte ich nich, mein Kind“, sagte Caleb, „bin es aber gewesen, obwohl ich es bis gestern nich für möglich gehalten hätte. Meine liebe blinde Tochter, hör mich an und verzeih mir! Die Welt, in der du, mein Herz, lebst, sieht nich so aus, wie ich sie dargestellt hab. Die Augen, auf die du dich verlassen hast, haben dich getäuscht.“
Noch immer wandte sie ihm ihr erstauntes Gesicht zu, zog sich aber zurück und klammerte sich enger an ihre Freundin.
„Dein Lebensweg war holprig, meine Ärmste“, sagte Caleb, „und ich wollte ihn dir ebnen. Ich hab Gegenstände umgeändert, Menschen verwandelt und viele Dinge erfunden, die es nie gegeben hat, um dich glücklicher zu machen. Ich habe Heimlichkeiten vor dir gehabt, hab dich betrogen Gott verzeih mir! – und dich mit Trugbildern umgeben.“
„Aber lebendige Menschen sind keine Trugbilder“, sagte sie hastig, wobei sie blaß wurde und sich noch weiter von ihm zurückzog. „Du kannst sie nicht verändern.“
„Ich hab es getan, Bertha“, wandte Caleb ein. „Es gibt einen Menschen, den du kennst, mein Täubchen …“
„O Vater, warum sagst du, den ich kenne?“ antwortete sie mit heftigem Vorwurf. „Was und wen kenne ich schon! Ich ohne Führer! Ich elende Blinde!“
In ihrer Herzenspein streckte sie die Hände aus, als ob sie sich vorantaste. Dann hielt sie sie mit einer Geste der Verzweiflung und Trauer vors Gesicht.
„Die Hochzeit, die heute stattfindet“, sagte Caleb, „ist die eines unnachgiebigen, geizigen Schinders, der seit vielen Jahren dir und mir, mein Liebes, ein strenger Arbeitgeber ist.
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