Alle Weihnachtserzählungen
sie die Stadt verließen und er früh hereinkam. Die Männer reisen zu Fuß und legten gestern abend dort eine Pause ein. Und da Marion Geburtstag hat und er dachte, es würde ihr gefallen, schickte er sie mit einer Notiz zu mir, daß sie ihr, falls ich einverstanden sei, ein Ständchen bringen sollten.“
„Oh, oh“, sagte der Doktor unbekümmert, „er richtet sich immer nach deiner Meinung.“
„Und da ich zustimmte“, sagte Grace aufgeräumt und hielt einen Augenblick inne, um den hübschen Kopf zu bewundern, den sie schmückte, wobei sie ihren in den Nacken warf, „und Marion in guter Stimmung war und zu tanzen begann, machte ich mit. Und so tanzten wir nach Alfreds Musik um so vergnügter, weil sie Alfred geschickt hatte. Nicht wahr, liebe Marion?“
„Ach, ich weiß nicht, Grace. Nun ziehst du mich auf wegen Alfred.“
„Dich aufziehen, wenn ich von deinem Liebsten spreche?“ sagte ihre Schwester.
„Ich mache mir wirklich nicht viel daraus, daß man von ihm spricht“, sagte die eigensinnige Schönheit, streifte die Blütenblätter von ein paar Blumen, die sie hielt, und verstreute sie auf dem Boden. „Ich bin es fast leid, von ihm zu hören, und was den Liebsten angeht …“
„Still! Sprich nicht so leichtfertig von einem aufrichtigen Herzen, das ganz dir gehört, Marion“, rief ihre Schwester. „Auch nicht im Scherz. Es gibt kein aufrichtigeres Herz auf der Welt als Alfreds.“
„Nein, nein“, sagte Marion, zog die Augenbrauen mit einer liebenswürdigen Miene leichter Gleichgültigkeit hoch, „vielleicht nicht. Aber ich sehe darin keinen großen Vorzug. Ich – ich will gar nicht, daß er so aufrichtig ist. Ich habe ihn nie darum gebeten. Wenn er erwartet, daß ich … Aber liebe Grace, warum müssen wir überhaupt gerade jetzt von ihm sprechen?“
Es war angenehm, die anmutigen Gestalten der blühenden Schwestern zu betrachten, wie sie umschlungen unter den Bäumen einhergingen und sich unterhielten, wobei Ernsthaftigkeit und Leichtfertigkeit aufeinandertrafen, doch Liebe zärtlich mit Liebe erwidert wurde. Und es war wirklich seltsam anzusehen, wie die Augen der jüngeren Schwester in Tränen schwammen und etwas inbrünstig und tief Empfundenes unter dem geäußerten Eigensinn durchbrach und mühsam damit rang.
Der Altersunterschied zwischen ihnen konnte höchstens vier Jahre betragen, doch Grace – wie das oft in solchen Fällen geschieht, wenn keine Mutter über beiden waltet (die Frau des Doktors war tot) – wirkte auf Grund der liebevollen Sorge um die jüngere Schwester und der ständigen Aufopferung für sie älter, als sie war, und sie schien im natürlichen Lauf der Dinge von jedem Wettstreit mit ihr oder der Beteiligung an ihren launischen Einfällen, außer durch ihre Anteilnahme und aufrichtige Liebe, weiter entfernt zu sein, als ihr Alter es rechtfertigte. Großartiger Charakter der Mutter, der selbst in seinem Schatten und seiner schwachen Widerspiegelung das Herz läutert und die erhabene Natur den Engeln näherbringt!
Die Überlegungen des Doktors, als er ihnen nachschaute und ihre Unterhaltung mit anhörte, waren zunächst auf gewisse heitere Betrachtungen über den Unsinn jeglicher Liebe und Zuneigung sowie auf die unnütze Täuschung beschränkt, der sich die jungen Leute hingaben, die einen Augenblick glaubten, daß an solchem Schwindel etwas Wahres sei, und immer eines Besseren belehrt wurden – immer!
Doch die den Haushalt verschönenden, selbstlosen Eigenschaften von Grace sowie ihre gutmütige, sanfte und zurückhaltende Veranlagung, die jedoch so viel Unerschrockenheit und Beständigkeit des Geistes einschlossen, schienen sich ihm in dem Gegensatz zwischen ihrer ruhigen und häuslichen Gestalt und der seines jüngeren und hübscheren Kindes zu zeigen, und es tat ihm um ihretwillen und um beider willen leid, daß das Leben ein so lächerliches Unternehmen sein sollte, wie es war.
Der Doktor dachte nicht im Traum daran, danach zu fragen, ob seine Kinder oder eins von beiden auf irgendeine Weise mithelfen könnten, diese Anschauung in eine ernsthafte zu verwandeln. Aber er war freilich ein Philosoph.
Er, von Natur aus ein freundlicher und großzügiger Mensch, war zufällig über jenen bekannten Stein der Weisen gestolpert (der viel leichter zu entdecken ist als der Gegenstand alchimistischer Untersuchungen, der manchmal freundliche und großzügige Menschen zu Fall bringt und die unangenehme Eigenschaft hat, Gold in Unrat zu verwandeln und aus jeder
Weitere Kostenlose Bücher