Alle Weihnachtserzählungen
auf der Heimreise, wett ich. Wir werden ’ne Hochzeit im Haus haben – heute morgen warn zwei Teelöffel auf meiner Untertasse. O Gott, wie langsam er ihn aufmacht!“
Dies alles äußerte sie in einer Art Selbstgespräch, und sie stellte sich in ihrer Ungeduld, die Nachricht zu erfahren, allmählich immer höher auf die Zehenspitzen und machte aus ihrer Schürze einen Korkenzieher und aus ihrem Mund eine Flasche. Schließlich, als die Spannung einen Höhepunkt erreichte und sie sah, daß der Doktor immer noch mit dem Lesen des Briefes beschäftigt war, stellte sie sich wieder auf die Fußsohlen und warf ihre Schürze aus reiner Verzweiflung und aus Unfähigkeit, es noch länger auszuhalten, wie einen Schleier über den Kopf.
„Hier, Mädchen!“ rief der Doktor. „Ich kann nicht anders, noch nie im Leben konnte ich ein Geheimnis für mich behalten. Es gibt auch nicht viele Geheimnisse, die zu hüten wert wären in dieser … nun, schon gut! Alfred kommt nach Hause, meine Lieben, auf schnellstem Wege.“
„Auf schnellstem Wege!“ rief Marion aus.
„Wie! Das Buch ist schnell vergessen!“ sagte der Doktor und kniff sie in die Wange. „Ich dachte, diese Nachricht würde deine Tränen trocknen. Ja. ‚Es soll eine Überraschung sein‘, schreibt er hier. Aber ich kann es keine Überraschung sein lassen. Er muß willkommen geheißen werden.“
„Auf schnellstem Wege!“ wiederholte Marion.
„Na, vielleicht nicht, was deine Ungeduld ‚auf schnellstem Wege‘ nennt“, erwiderte der Doktor, „aber ziemlich bald. Wir werden sehen. Heute ist Donnerstag, nicht wahr? Demnach verspricht er, heute in einem Monat hierzusein.“
„Heute in einem Monat!“ wiederholte Marion leise.
„Ein Freudentag und Feiertag für uns“, sagte die fröhliche Stimme ihrer Schwester Grace, die sie mit einem Kuß beglückwünschte. „Lange erwartet, Liebste, und schließlich gekommen.“
Sie antwortete mit einem Lächeln, einem traurigen Lächeln, doch mit schwesterlicher Zuneigung. Als sie ins Gesicht ihrer Schwester blickte und dem ruhigen Wohllaut ihrer Stimme lauschte, wie sie das Glück seiner Rückkehr ausmalte, erglühte ihr eigenes Gesicht vor Hoffnung und Freude.
Und vor etwas anderem. Etwas, das immer mehr durch alles andere hindurchschien, für das ich keinen Namen habe. Es war kein Jubel, Triumph, keine stolze Begeisterung. Diese zeigen sich nicht dermaßen gelassen. Es waren auch nicht nur Liebe und Dankbarkeit, obwohl Liebe und Dankbarkeit dazugehörten. Es rührte auch nicht von gemeinen Gedanken her, denn gemeine Gedanken hellen keine Stirn auf und schweben nicht auf den Lippen und bewegen den Geist nicht wie ein flackerndes Licht, bis die mitfühlende Gestalt zittert.
Dr. Jeddler konnte trotz seines philosophischen Systems – mit dem er stets im Widerspruch stand und das er in der Praxis verleugnete, aber das haben schon berühmtere Philosophen getan – nicht umhin, ein so lebhaftes Interesse an der Rückkehr seines ehemaligen Schützlings und Schülers zu zeigen, als handele es sich um ein ernstes Ereignis. So setzte er sich wieder in seinen Sessel, streckte noch einmal die Füße in den Pantoffeln aus, las den Brief viele Male von vorn bis hinten und sprach noch viel öfter darüber.
„Ah! Das war der Tag“, sagte der Doktor und blickte ins Feuer, „als du, Grace, und er in seiner Ferienzeit immer Arm in Arm wie zwei wandelnde Puppen spazierengingt. Erinnerst du dich?“
„Ich erinnere mich“, antwortete sie mit ihrem liebenswürdigen Lachen und führte emsig die Nadel.
„Heute in einem Monat, tatsächlich!“ sann der Doktor nach. „Dabei scheint kaum ein Jahr vergangen zu sein. Und wo war meine kleine Marion damals?“
„Nie weit weg von ihrer Schwester“, sagte Marion fröhlich, „wenn auch ein wenig. Grace hat mir alles bedeutet, sogar als sie selbst noch ein kleines Kind war.“
„Wahrhaftig, Kätzchen, wahrhaftig“, erwiderte der Doktor. „Sie war eine gesetzte, kleine Frau, die Grace, und eine gescheite Haushälterin und eine fleißige, ruhige und freundliche Person, die unsere Launen ertrug und unsere Wünsche erriet und stets bereit war, die eigenen zu vergessen, selbst in jenen Zeiten. Grace, mein Liebling, ich habe dich nie hartnäckig oder eigensinnig erlebt, nur auf einem Gebiet.“
„Ich fürchte, seitdem habe ich mich nicht zum Vorteil verändert“, lachte Grace, noch immer emsig bei der Arbeit. „Welches war das, Vater?“
„Natürlich Alfred“, sagte der
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