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und Entschlossenheit, der Clemency nicht widerstehen konnte. Leise schob sie den Riegel an der Tür zurück, doch ehe sie den Schlüssel umdrehte, sah sie sich zu dem jungen Geschöpf um, das darauf wartete, hinauszustürzen, wenn sie sie öffnen würde.
Das Gesicht war nicht abgewandt oder niedergeschlagen, sondern schaute sie im Selbstgefühl seiner Jugend und Schönheit voll an. Ein natürliches Gefühl für die Bedeutungslosigkeit des Hindernisses, das sich zwischen das glückliche Zuhause und die Liebe des unbescholtenen Mädchens stellte und das die Zerstörung jenes Zuhauses und den Untergang seines wertvollsten Schatzes bedeuten könnte, quälte Clemencys mitfühlendes Herz und ließ es vor Kummer und Mitleid überfließen, daß sie, in Tränen ausbrechend, ihre Arme um Marions Hals schlang.
„Ich weiß nur wenig, mein Schatz“, rief Clemency, „sehr wenig, aber ich weiß, daß das nich sein sollte. Überlege, was du tust!“
„Das habe ich viele Male“, sagte Marion sanft.
„Noch einmal“, bestürmte sie Clemency, „bis morgen.“ Marion schüttelte den Kopf.
„Um Mr. Alfreds willen“, sagte Clemency mit schlichtem Ernst. „Ihn, den du früher von Herzen geliebt hast!“
Sie verbarg augenblicklich das Gesicht in den Händen und wiederholte „früher!“, als zerreiße es ihr das Herz.
„Laß mich gehen“, sagte Clemency, sie beruhigend. „Ich werde ihm sagen, was du willst. Tritt heute abend nich über diese Schwelle. Ich bin sicher, daß nichts Gutes rauskommt. Oh, es war ein unglückseliger Tag, an dem Mr. Warden hergebracht wurde! Denk an deinen lieben Vater, Liebling, und an deine Schwester.“
„Das habe ich“, sagte Marion und hob ungestüm den Kopf. „Du weißt nicht, was ich tue. Ich muß ihn sprechen. Du hast zu mir gesagt, daß du mein bester und treuster Freund auf der Welt bist, aber ich muß diesen Schritt unternehmen. Willst du mitkommen, Clemency“, sie küßte sie auf das freundliche Gesicht, „oder soll ich allein gehen?“ Besorgt und verwundert drehte Clemency den Schlüssel und öffnete die Tür. Marion huschte in die dunkle und ungewisse Nacht hinaus, die jenseits der Schwelle lag, und hielt sie bei der Hand.
In der finsteren Nacht gesellte er sich zu ihr, und sie sprachen ernst und lange miteinander; und die Hand, die Clemencys festhielt, zitterte und wurde kalt oder umklammerte und umschloß deren Hand in der starken Erregung, die das Gespräch unwillkürlich hervorrief. Als sie zurückkehrten, folgte er bis zur Tür und ergriff, während sie einen Augenblick verweilten, ihre andere Hand und preßte sie an seine Lippen. Dann stahl er sich davon.
Die Tür wurde wieder verriegelt und verschlossen, und noch einmal stand sie unter ihres Vaters Dach. Nicht von dem Geheimnis niedergedrückt, das sie mitbrachte, obwohl sie so jung war; sondern mit demselben Gesichtsausdruck, für den ich keinen Namen habe und der durch die Tränen hindurchschimmerte.
Immer wieder dankte sie ihrer ergebenen Freundin, und sie vertraute ihr ohne weiteres, wie sie sagte, voller Zuversicht. Als sie sicher ihr Schlafzimmer erreicht hatte, fiel sie auf die Knie, und mit dem belastenden Geheimnis auf dem Herzen konnte sie beten!
Nach den Gebeten konnte sie sich ruhig und heiter über ihre geliebte, schlummernde Schwester beugen, deren Gesicht betrachten und lächeln – wenn auch traurig –, und sie murmelte, als sie ihr die Stirn küßte, diese Grace sei stets wie eine Mutter zu ihr gewesen und sie habe sie wie ein Kind geliebt!
Sie konnte den widerstandslosen Arm um ihren Hals legen, als sie sich zur Ruhe begab – selbst im Schlaf schien er sich freiwillig beschützend und zärtlich darum zu schlingen –, und auf die geöffneten Lippen hauchen: „Gott segne sie!“
Sie konnte in einen friedlichen Schlaf sinken, bis auf den einen Traum, in dem sie mit ihrer reinen und rührenden Stimme aufschrie, daß sie ganz allein sei und alle sie vergessen hätten.
Ein Monat vergeht schnell, selbst wenn er sein langsamstes Tempo anschlägt. Der Monat, der zwischen jener Nacht und der Rückkehr verstreichen sollte, war schnell zu Fuß und verging wie im Fluge.
Der Tag kam heran. Ein stürmischer Wintertag, der manchmal an dem alten Haus rüttelte, daß es gleichsam im Wind erzitterte. Ein Tag, an dem man sich zu Hause doppelt wohl fühlte. An dem die Kaminecke neue Freuden spendete. An dem sich auf die Gesichter, die sich um den Herd scharten, ein stärkeres Glühen malte und an dem sich
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