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verwirrt an. Sie schien kaum zu hören. „Mein Liebes, meine Schwester!“ sagte Marion. „Sammle deine Gedanken für einen Augenblick und höre mir zu. Sieh mich nicht so seltsam an. Es gibt Länder, Liebste, wo jene, die einer falschen Leidenschaft abschwören oder ein Gefühl in ihrem Herzen bekämpfen und besiegen wollen, in eine hoffnungslose Einsamkeit flüchten und sich gegen die Welt, gegen weltliche Liebe und Hoffnungen für immer verschließen. Wenn Frauen dies tun, nehmen sie den Namen an, der dir und mir so teuer ist, und nennen sich Schwestern. Es mag aber Schwestern geben, Grace, die draußen in der weiten Welt und unter freiem Himmel, an überfüllten Plätzen und mitten im tätigen Leben und bei dem Versuch, es zu unterstützen und aufzuheitern und Gutes zu tun, dieselbe Lektion lernen und mit Herzen, die noch jung und aufgeschlossen für das Glück und die Wege zum Glück sind, sagen können, daß die Schlacht vorbei und der Sieg längst errungen ist. Und so eine bin ich! Verstehst du mich jetzt?“
Sie blickte sie noch immer starr an und gab keine Antwort. „O Grace, liebe Grace“, sagte Marion und schmiegte sich noch zärtlicher und inniger an die Brust, von der sie so lange getrennt gewesen war, „wenn du keine glückliche Ehefrau und Mutter wärst – wenn ich hier keine kleine Namensschwester hätte – wenn nicht Alfred, mein gütiger Bruder, dein liebevoller Mann wäre – woher käme dann der Freudentaumel, in dem ich mich heute abend befinde! Doch wie ich weggegangen bin, bin ich zurückgekehrt. Ich habe mein Herz keinem anderen geschenkt und meine Hand keinem anderen versprochen. Ich bin noch deine jungfräuliche, unverheiratete, unverlobte Schwester, deine dich liebende alte Marion, in deren Liebe es nur dich allein und keinen anderen gibt, Grace!“
Nun verstand sie. Ihr Gesicht entspannte sich, befreiende Schluchzer lösten sich, und während sie ihr um den Hals fiel, weinte und weinte sie und liebkoste sie, als wäre sie wieder ihr Kind.
Als sie sich mehr gefaßt hatten, merkten sie, daß der Doktor und seine Schwester, die gute Tante Martha, mit Alfred ganz in der Nähe standen.
„Das ist ein schwerer Tag für mich“, sagte die gute Tante Martha, unter Tränen lächelnd, als sie ihre Nichten umarmte, „denn ich verliere meine liebe Gefährtin, indem ich euch alle glücklich mache. Und was könnt ihr mir als Ersatz für meine Marion geben?“
„Einen bekehrten Bruder“, sagte der Doktor.
„Das ist wirklich etwas“, entgegnete Tante Martha, „in solch einem Possenspiel …“
„Nein, bitte nicht“, sagte der Doktor zerknirscht.
„Nun, dann nicht“, antwortete Tante Martha. „Aber ich fühle mich schlecht behandelt. Ich weiß nicht, was aus mir ohne meine Marion werden soll, nachdem wir ein halbes Dutzend Jahre zusammen gelebt haben.“
„Dann mußt du eben hier bei uns wohnen“, antwortete der Doktor. „Wir werden uns jetzt nicht streiten, Martha.“
„Oder du mußt heiraten, Tante.“
„Wahrhaftig“, erwiderte die alte Dame, „ich glaube, es wäre ein gutes Unternehmen, wenn ich mir Mr. Warden angeln würde, der, wie ich höre, nach seiner Abwesenheit in jeder Hinsicht gebessert nach Hause gekommen ist. Weil ich ihn aber kannte, als er noch ein kleiner Junge und ich keine sehr junge Frau mehr war, würde er darauf möglicherweise nicht reagieren. So werde ich mich dazu entschließen, bei Marion zu leben, wenn sie heiratet, und bis dahin (es wird nicht mehr lange dauern, behaupte ich) allein bleiben. Was sagst du dazu, Bruder?“
„Ich habe nicht übel Lust zu sagen, daß dies eine völlig verrückte Welt ist und es nichts Ernsthaftes auf ihr gibt“, bemerkte der arme alte Doktor.
„Du könntest zwanzig eidesstattliche Erklärungen abgeben, Anthony“, sagte seine Schwester, „aber bei diesen Augen würde dir das keiner glauben.“
„Es ist eine Welt voller Liebe“, sagte der Doktor, wobei er seine jüngere Tochter liebkoste und sich über sie beugte, um Grace zu liebkosen, denn er konnte die Schwestern nicht trennen, „und eine ernste Welt bei all ihrer Torheit, sogar mit meiner gerechnet, die ausgereicht hätte, den Erdball zu überschwemmen. Und es ist eine Welt, auf der die Sonne niemals aufgeht, sondern auf tausend unblutige Schlachten herabsieht, die ein Ausgleich für das Elend und die Sündhaftigkeit von Schlachtfeldern sind. Und es ist eine Welt, in der wir darauf achten müssen, jedem gerecht zu werden – der Himmel verzeih uns
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