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sinkt.“
„Du sollst die Wahrheit über Marions Geschichte erfahren, mein Liebling“, antwortete er.
„Die ganze Wahrheit“, sagte sie flehend. „Nichts mehr wird vor mir verschleiert. So lautet das Versprechen, nicht wahr?“
„Ja“, antwortete er.
„Ehe die Sonne an Marions Geburtstag untergeht. Und du siehst sie, Alfred? Sie sinkt rasch.“
Er legte seinen Arm um ihre Taille und erwiderte, wobei er ihr fest in die Augen sah: „Diese Wahrheit zu erzählen ist nicht mir zugedacht, liebe Grace. Sie soll von anderen Lippen kommen.“
„Von anderen Lippen!“ wiederholte sie schwach.
„Ja. Ich kenne dein standhaftes Herz; ich weiß, wie tapfer du bist; ich weiß, daß dir ein Wort der Vorbereitung genügt. Du hast ganz richtig gesagt, daß die Zeit gekommen ist. Das ist sie. Sag mir, daß du genügend seelische Kraft besitzt, eine Prüfung, eine Überraschung, einen Schock zu ertragen: und der Bote wartet am Tor.“
„Was für ein Bote?“ fragte sie. „Und was für eine Nachricht bringt er?“
„Ich bin verpflichtet“, antwortete er und behielt seinen festen Blick, „nichts weiter zu sagen. Glaubst du, mich zu verstehen?“
„Ich fürchte, ja.“
In seinem Gesicht lag trotz seines festen Blickes jene Erregung, die sie erschreckte. Wieder barg sie zitternd ihr Gesicht an seiner Schulter und bat ihn, einen Augenblick zu warten.
„Mut, meine Frau! Wenn du entschlossen bist, den Boten zu empfangen, wartet der Bote am Tor. Die Sonne geht unter an Marions Geburtstag, Mut, nur Mut, Grace!“
Sie hob den Kopf, sah ihn an und sagte, sie sei bereit. Als sie da stand und ihn betrachtete, wie er davonging, ähnelte ihr Gesicht so dem Marions, wie es in ihrer letzten Zeit zu Hause gewesen, daß es wunderschön anzusehen war. Er nahm das Kind mit. Sie rief es zurück – es trug den Namen des verlorenen Mädchens – und preßte es an ihre Brust. Das kleine Wesen rannte ihm nach, als es wieder losgelassen wurde, und Grace blieb allein zurück.
Sie wußte nicht, was sie befürchtete oder hoffte, aber sie blieb dort regungslos und blickte zur Veranda, hinter der sie verschwunden waren.
Nanu, was war das, was aus dem Schatten hervortrat und auf der Schwelle stand! Diese Gestalt, deren weiße Kleider in der Abendluft raschelten, deren Kopf an ihres Vaters Brust ruhte und sich an sein liebendes Herz preßte! O Gott! War es ein Traumbild, das da aus den Armen des alten Mannes mit einem Aufschrei, mit den Händen winkend, in wilder Hast herbeistürzte und in seiner grenzenlosen Liebe in ihre Arme sank!
„O Marion, Marion! O meine Schwester! O meine Herzallerliebste! Oh, unsagbare Freude und Glückseligkeit, daß wir uns so Wiedersehen!“
Es war kein Traum, kein von Hoffnung und Furcht heraufbeschworenes Trugbild, sondern Marion, die süße Marion! So schön, so glücklich, so ungetrübt von Sorge und Anfechtung, so erhaben und vornehm in ihrer Lieblichkeit, daß sie, als die untergehende Sonne ihr erhobenes Gesicht anstrahlte, ein Geist gewesen sein konnte, der die Erde in einer versöhnenden Mission aufsuchte.
Als sie sich an ihre Schwester schmiegte, die auf einen Stuhl gesunken war, und sich über sie gebeugt hatte und, unter Tränen lächelnd, dicht neben ihr kniete – beide Arme um sie geschlungen und nicht einen Augenblick von ihrem Gesicht abgewandt – und als sich der Schein der untergehenden Sonne auf ihrer Stirn zeigte und die Abendstille sie alle umfing, brach Marion endlich das Schweigen mit ihrer ruhigen, leisen, klaren, angenehmen und dem Zeitpunkt gut angepaßten Stimme.
„Als dies mein geliebtes Zuhause war, Grace, wie es jetzt wieder sein wird …“
„Warte, mein Liebling! Einen Augenblick! O Marion, dich wieder sprechen zu hören!“
Zunächst konnte sie die Stimme, die sie so liebte, nicht ertragen.
„Als dies mein geliebtes Zuhause war, Grace, wie es jetzt wieder sein wird, liebte ich ihn von ganzer Seele. Ich liebte ihn mit aller Hingabe. Obwohl ich so jung war, wäre ich für ihn gestorben. Nicht einen kurzen Augenblick habe ich seine Zuneigung in meinem Innersten für gering erachtet. Sie stand bei mir hoch über allem. Obwohl es so lange her und längst vorbei ist und obwohl sich alles geändert hat, könnte ich den Gedanken nicht ertragen, daß du, die ihn so liebte, glauben möchtest, ich hätte ihn einst nicht aufrichtig geliebt. Ich liebte ihn niemals stärker, Grace, als damals, als er an jenem Tage diese Gegend verließ. Ich liebte ihn niemals stärker, Schatz,
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