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Alle Weihnachtserzählungen

Alle Weihnachtserzählungen

Titel: Alle Weihnachtserzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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flehender Haltung vor ihm auf die Knie, „der auf mich verzichtet, mich aber noch einmal aufgesucht hat (daraus und aus der freundlicheren Miene glaube ich einen Hoffnungsschimmer zu erkennen), ich will ohne Nachfrage gehorchen und flehentlich bitten, daß der Ruf, den ich in meiner Seelenpein ausgestoßen habe, um derentwillen erhört worden ist oder erhört wird, denen ich so geschadet habe, daß sie außerhalb menschlicher Wiedergutmachung stehen. Aber da ist eine Sache …“
    „Du sprichst zu mir über das, was hier liegt“, warf der Geist ein und wies mit dem Finger auf den Jungen.
    „Ja“, sagte der Chemiker. „Du weißt, was ich fragen wollte. Warum ist dieses Kind allein gegen meinen Einfluß gefeit gewesen, und warum, warum habe ich in seinen Gedanken eine furchtbare Gemeinschaft mit meinen festgestellt?“
    „Das“, sagte der Geist und zeigte auf den Jungen, „ist die letzte und vollkommenste Verbildlichung eines menschlichen Geschöpfes, das gänzlich solcher Erinnerungen beraubt ist, wie du sie aufgegeben hast. Keine weicher stimmende Erinnerung an Leid, Unrecht und Sorgen findet hier Eingang, weil dieser elende Mensch von Geburt an unter schlimmeren Bedingungen gelebt hat als ein Tier und in seiner Erfahrung keinerlei Gegensätze, keinen vermenschlichenden Zug hat, um eine Spur von solch einem Gedächtnis in seiner verhärteten Brust aufkommen zu lassen. Alles in diesem einsamen Geschöpf ist unfruchtbare Wildnis. Alles in dem Menschen, der dessen beraubt ist, worauf du verzichtet hast, ist genau dieselbe unfruchtbare Wildnis. Wehe solch einem Menschen! Zehnfach wehe der Nation, die Hunderte und Tausende solcher Ungeheuer zählt wie dieses, das hier liegt!“
    Redlaw wich entsetzt vor dem zurück, was er hörte.
    „Da ist nicht eines unter ihnen – nicht eines –, das nicht sät, was die Menschheit ernten muß. Aus jeder bösen Saat dieses Jungen wächst ein Feld des Verderbens heran, das geerntet und gespeichert und wiederum an vielen Stellen der Welt ausgesät werden wird, bis Gegenden von so viel Sündhaftigkeit überzogen sind, daß eine neue Sintflut aufkommt. Offenen und ungestraften Mord auf den Straßen einer Stadt zu tolerieren wäre weniger verbrecherisch als ein Anblick wie dieser.“
    Er schien auf den schlafenden Jungen zu schauen. Auch Redlaw betrachtete ihn, mit einem neuen Gefühl.
    „Jeder Vater“, sagte der Geist, „an dessen Seite auf seinem Spaziergang bei Tage oder am Abend diese Geschöpfe vorübergehen, jede Mutter unter allen liebenden Müttern in diesem Land und jeder einzelne, der das Stadium der Kindheit hinter sich hat, ist für diese Abscheulichkeit verantwortlich. Es gibt kein Land auf Erden, über das sie nicht Fluch bringen würde, keine Religion auf Erden, der sie nicht widerspräche, kein Volk auf Erden, das sie nicht in Schande stieße.“
    Der Chemiker faltete die Hände und blickte, zitternd vor Furcht und Mitleid, von dem schlafenden Jungen zu dem Gespenst, das über ihm stand und mit seinem Finger hinunterzeigte.
    „Sieh dir das vollendete Muster von dem an, was du sein wolltest“, fuhr das Gespenst fort. „Dein Einfluß ist hier machtlos, weil du aus der Brust dieses Kindes nichts verbannen kannst. Seine Gedanken waren in furchtbarer Gemeinschaft mit deinen, weil du dich auf sein widernatürliches Niveau hinabgelassen hast. Er ist das Produkt menschlicher Gleichgültigkeit; du bist das Produkt menschlicher Anmaßung. Der gütige Plan des Himmels ist in jedem Fall umgestürzt, und von den beiden Polen der immateriellen Welt geht ihr aufeinander zu.“
    Der Chemiker ließ sich auf den Fußboden hinab und deckte den schlafenden Jungen zu, in demselben Mitgefühl, das er jetzt für sich selbst empfand, und wich nicht mehr aus Abneigung und Gleichgültigkeit vor ihm zurück.
    Rasch wurde nun die ferne Linie am Horizont heller, die Dunkelheit wich, die Sonne ging rot und strahlend auf, und die Schornsteine und Giebel des altehrwürdigen Gebäudes leuchteten in der klaren Luft, die den Rauch und Dunst der Stadt in eine Wolke von Gold verwandelte. Selbst die Sonnenuhr in ihrem schattigen Winkel, wo sich der Wind gewöhnlich mit einer dem Wind fremden Beständigkeit drehte, schüttelte die feinen Schneeteilchen ab, die sich während der Nacht auf ihrem teilnahmslosen, alten Gesicht angesammelt hatten, und schaute durch die kleinen weißen Ringe hindurch, die um sie herumwirbelten. Zweifellos tastete sich der Morgen blind auf seinem Weg in diese

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