Alle Weihnachtserzählungen
trocknete sich die Augen, „wie an diesem Morgen. Ich muß euch erzählen, sobald ich sprechen kann. – Mr. Redlaw kam nach Sonnenaufgang zu mir, mit einer Zärtlichkeit in seinem Benehmen, als wäre ich eher seine Lieblingstochter als ich selbst, und bat mich inständig, dorthin mitzugehen, wo Williams Bruder George krank darniederliegt. Wir gingen zusammen, und auf dem ganzen Weg war er so freundlich und sanft und schien so viel Vertrauen und Hoffnung in mich zu setzen, daß ich vor Freude weinen mußte. Als wir zu dem Haus kamen, begegneten wir an der Tür einer Frau (es hatte sie jemand geschlagen und verletzt, fürchte ich), die mich bei der Hand nahm und segnete, als ich vorüberging.“
„Sie hatte recht“, sagte Mr. Tetterby. Mrs. Tetterby sagte, sie hätte recht. Alle Kinder riefen, sie hätte recht.
„Ach, noch mehr als das“, sagte Milly. „Als wir nach oben in das Zimmer kamen, erhob sich der kranke Mann, der stundenlang in einem Zustand gelegen hatte, aus dem keinerlei Bemühungen ihn aufrütteln konnten, in seinem Bett und streckte, in Tränen ausbrechend, die Arme nach mir aus und sagte, daß er ein vergeudetes Leben geführt habe, daß es ihm nun aber ehrlich leid tue in seiner Klage um die Vergangenheit, die ihm so klar erscheine wie eine weite Landschaft, von der sich eine dichte schwarze Wolke verzogen hat, und er flehte mich an, seinen armen alten Vater um Verzeihung und seinen Segen zu bitten und ein Gebet an seinem Bett zu sprechen. Und als ich das tat, fiel Mr. Redlaw so inbrünstig ein und dankte mir immer wieder und dankte dem Himmel, daß mein Herz überströmte, und ich hätte schluchzen und weinen müssen, wenn mich der kranke Mann nicht gebeten hätte, mich zu ihm zu setzen, wodurch ich natürlich ruhiger wurde. Als ich dort saß, hielt er meine Hand, bis er in einen Schlummer versank; und selbst dann, als ich meine Hand wegzog, um ihn zu verlassen und herzukommen (worum mich Mr. Redlaw ernstlich bat), suchte seine Hand nach meiner, so daß ein andrer meinen Platz einnehmen und ihn täuschen mußte, daß ich ihm meine Hand zurückreichte. Du lieber Himmel“, schluchzte Milly. „Wie dankbar und glücklich sollte ich mich fühlen und fühle ich mich auch nach alldem!“ Während sie sprach, war Redlaw hereingekommen, und nachdem er einen Augenblick stehengeblieben war, um die Gruppe zu beobachten, deren Zentrum sie bildete, war er schweigend die Treppen hinaufgestiegen. Auf dieser Treppe erschien er nun wieder und blieb dort, während der junge Student an ihm vorbei heruntergerannt kam.
„Gütige Krankenpflegerin, liebenswürdigstes, bestes aller Geschöpfe“, sagte er, fiel vor ihr auf die Knie und faßte nach ihrer Hand, „verzeihen Sie meine grausame Undankbarkeit!“
„Du lieber Himmel!“ rief Milly unschuldig, „hier ist noch so einer. Du liebe Güte, hier ist noch einer, der mich gern hat. Was soll ich nur tun?“
Die arglose, schlichte Art, in der sie das sagte und die Hände vor die Augen hielt und vor lauter Glück weinte, war ebenso rührend wie entzückend.
„Ich war nicht bei mir“, sagte er. „Ich weiß nicht, was es war – vielleicht war es eine Folge meiner Krankheit –, ich war wahnsinnig. Aber ich bin es nicht mehr. Fast während ich hier spreche, bin ich wiederhergestellt. Ich hörte, wie die Kinder Ihren Namen riefen, und der Schatten wich von mir beim bloßen Nennen. Oh, weinen Sie nicht! Liebe Milly, wenn Sie in meinem Herzen lesen und nur wissen könnten, in welcher Liebe und dankbaren Ehrfurcht es erglüht, würden Sie mich nicht ansehen lassen, wie Sie weinen. Es ist eine tiefe Schmach.“
„Nein, nein“, sagte Milly, „das ist es nicht. Wirklich nicht. Es ist Freude. Es ist Erstaunen, weil Sie es für notwendig halten, mich zu bitten, solche Kleinigkeit zu verzeihen, und dennoch ist es schön, daß Sie es tun.“
„Und werden Sie wiederkommen und den kleinen Vorhang zu Ende nähen?“
„Nein“, sagte Milly, wischte sich die Augen und schüttelte den Kopf. „Sie werden jetzt kein Interesse für meine Handarbeit haben.“
„Ist das Verzeihen, wenn Sie so mit mir sprechen?“
Sie winkte ihn zur Seite und flüsterte ihm ins Ohr.
„Es gibt Neuigkeiten von zu Hause, Mr. Edmund.“
„Neuigkeiten? Wie?“
„Entweder war es verdächtig, weil Sie nicht schrieben, als Sie krank waren, oder weil Ihre Handschrift anders aussah, als es Ihnen langsam besser ging. Jedenfalls … aber es wird Ihnen sicher nicht schlechter gehen durch
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