Alle Weihnachtserzählungen
irgendwelche Nachrichten, falls es keine schlimmen sind?“
„Gewiß.“
„Dann ist jemand gekommen!“ sagte Milly.
„Meine Mutter?“ fragte der Student und blickte sich unwillkürlich nach Redlaw um, der die Treppe heruntergekommen war.
„Pst! Nein“, sagte Milly.
„Es kann niemand anders sein.“
„Sind Sie wirklich sicher?“ fragte Milly.
„Es ist doch nicht …“ Ehe er weitersprechen konnte, hielt sie ihm den Mund zu.
„Ja!“ sagte Milly. „Die junge Dame (sie ähnelt sehr der Miniatur, Mr. Edmund, ist aber hübscher) war zu unglücklich, als daß sie Ruhe finden konnte, ohne ihre Zweifel zu stillen, und kam gestern abend mit einem kleinen Dienstmädchen her. Da Sie immer Ihre Briefe vom Institut aus adressiert haben, kam sie dorthin, und ehe ich heute morgen Mr. Redlaw sah, sah ich sie. Sie hat mich auch gern!“ sagte Milly. „Du liebe Güte, das ist noch eine!“
„Heute morgen! Wo ist sie jetzt?“
„Nun“, sagte Milly und brachte ihre Lippen dicht an sein Ohr, „jetzt ist sie in meinem kleinen Empfangszimmer in meiner Pförtnerloge und wartet darauf, Sie zu sehen.“
Er drückte ihre Hand und wollte davonschießen, doch sie hielt ihn zurück.
„Mr. Redlaw ist sehr verändert und hat mir heute morgen erzählt, daß sein Gedächtnis stark beeinträchtigt ist. Seien Sie sehr rücksichtsvoll zu ihm, Mr. Edmund. Er braucht das von uns allen.“
Der junge Mann versicherte ihr mit einem Blick, daß ihre Vorsicht nicht in den Wind geschlagen würde; und als er beim Hinausgehen an dem Chemiker vorbeilief, verbeugte er sich respektvoll und mit augenscheinlicher Anteilnahme vor ihm.
Redlaw erwiderte den Gruß höflich und sogar demütig und schaute ihm beim Weitergehen nach. Er ließ den Kopf auf seine Hand sinken, als wollte er etwas wiedererwecken, was er verloren hatte. Aber es war weg.
Die anhaltende Veränderung, die seit dem Einfluß der Musik und der Wiederkehr der Erscheinung in ihm vor sich gegangen war, bewirkte, daß er nun ehrlich spürte, wieviel er verloren hatte, und Mitleid mit seiner eigenen Lage haben konnte und sie klar dem natürlichen Zustand jener gegenüberstellte, die ihn umgaben. Damit erwachte wieder das Interesse an denen, die um ihn herum waren, und es entstand ein bescheidenes, ergebenes Gefühl für sein Elend, vergleichbar mit dem, das sich manchmal im Alter durchsetzt, wenn die geistigen Kräfte nachlassen, ohne daß sich Gleichgültigkeit oder Eigensinn noch zu den Schwächen gesellen.
Er war sich bewußt, daß sich diese Veränderung in ihm von selbst vollzog, da er durch Milly mehr und mehr das Böse, was er getan hatte, wiedergutmachte und immer mehr bei ihr war. Deshalb und wegen der Zuneigung, mit der sie ihn erfüllte (aber ohne andere Hoffnung), spürte er, daß er auf sie angewiesen und sie die Stütze in seinem Elend war.
Als sie ihn fragte, ob sie nun nach Hause zu dem alten Mann und ihrem Ehemann gehen wollten, und er bereitwillig ja sagte – in dieser Hinsicht war er ängstlich –, legte er darum seinen Arm in ihren und ging neben ihr; nicht, als wäre er der kluge und gelehrte Mann, für den die Wunder der Natur ein offenes Buch waren, und sie die ungebildete Seele, sondern als wäre ihre Stellung genau umgekehrt und er wüßte nichts und sie alles.
Er sah, wie sich die Kinder um sie drängten und sie liebkosten, als er und sie so zusammen aus dem Haus gingen; er hörte ihr schallendes Gelächter und ihre fröhlichen Stimmen; er sah ihre strahlenden Gesichter, die ihn wie Blumenbüschel umgaben; er wurde Zeuge der wiederhergestellten Zufriedenheit und Liebe ihrer Eltern; er atmete die reine Luft ihres bescheidenen Heimes ein, in das wieder Heiterkeit eingezogen war; er dachte an den verderbenbringenden Einfluß, den er darauf ausgeübt hatte und ausgeweitet hätte, wenn sie nicht gewesen wäre. Und vielleicht ist es kein Wunder, daß er untertänig neben ihr herlief und ihr gütiges Herz näher an das seine zog.
Als sie an der Pförtnerloge anlangten, saß der alte Mann in seiner Kaminecke auf dem Stuhl, hatte den Blick auf den Boden geheftet, und sein Sohn lehnte an der gegenüberliegenden Seite des Kamins und betrachtete ihn. Als sie zur Tür hereinkam, fuhren beide hoch und wandten sich zu ihr um, und eine strahlende Verwandlung zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab.
„Du lieber Himmel, sie freuen sich wie die anderen, mich zu sehen!“ rief Milly, klatschte vor Begeisterung in die Hände und hielt plötzlich inne. „Hier
Weitere Kostenlose Bücher