Alle Weihnachtserzählungen
spürte er, daß er kaum stehen konnte. Der Geist wartete einen Moment, als er seinen Zustand bemerkte, und gab ihm Zeit, sich zu erholen.
Aber Scrooge ging es nur um so schlimmer. Ein unbestimmtes Grausen packte ihn bei dem Bewußtsein, daß hinter der dunklen Hülle ein gespenstisches Augenpaar gespannt auf ihn gerichtet war, während er, obwohl er sich aufs äußerste anstrengte, außer einer Geisterhand und einer großen schwarzen Masse nichts sehen konnte.
„Geist der Zukunft!“ rief er aus, „ich fürchte dich mehr als jedes Gespenst, das ich bisher gesehen habe. Da ich aber weiß, daß es deine Absicht ist, mir Gutes zu tun, und da ich hoffe, weiterzuleben, um ein anderer Mensch zu werden, als der ich war, bin ich bereit, dir mit dankbarem Herzen Gesellschaft zu leisten. Willst du mir nichts sagen?“
Er gab ihm keine Antwort. Die Hand zeigte geradeaus.
„Geh weiter!“ sagte Scrooge. „Geh weiter! Die Nacht geht schnell zu Ende, und ich weiß, daß die Zeit kostbar für mich ist. Geh weiter, Geist!“
Die Erscheinung bewegte sich weg, wie sie auf ihn zugekommen war. Scrooge folgte im Schatten ihres Gewandes, das ihn hochhob, wie er glaubte, und mit sich forttrug.
Sie schienen nicht die Stadt zu betreten, denn die Stadt schien sich vielmehr um sie herum zu erheben und sie zu umfassen. Aber sie befanden sich in deren Herzen, auf der Börse unter den Kaufleuten, die auf und ab eilten und mit dem Geld in der Tasche klimperten, sich in Gruppen unterhielten, auf die Uhr schauten und nachdenklich mit ihren großen goldenen Amtssiegeln spielten, wie Scrooge es oft gesehen hatte.
Der Geist blieb neben einem Grüppchen Geschäftsleuten stehen. Da Scrooge bemerkte, daß die Hand auf diese deutete, näherte er sich ihnen, um ihrem Gespräch zu lauschen.
„Nein“, sagte ein großer, dicker Mann mit einem ungeheuren Kinn, „ich weiß nicht viel darüber. Ich weiß nur, daß er tot ist.“
„Wann ist er gestorben?“ fragte ein anderer.
„Ich glaube, gestern abend.“
„Nanu, was war los mit ihm?“ fragte ein dritter und nahm eine mächtige Prise aus einer riesigen Schnupftabakdose. „Ich dachte, er würde nie sterben.“
„Weiß Gott“, sagte der erste gähnend.
„Was hat er mit seinem Geld angestellt?“ fragte ein Herr mit einem roten Gesicht und herabhängenden Auswuchs an der Nasenspitze, der wie der Kehllappen eines Truthahns hin und her pendelte.
„Davon habe ich nichts gehört“, sagte der Mann mit dem starken Kinn und gähnte wieder. Vielleicht hat er’s seiner Innung hinterlassen. Mir hat er’s jedenfalls nicht hinterlassen. Soviel weiß ich.“
Diese witzige Bemerkung wurde mit allgemeinem Gelächter aufgenommen.
„Es wird wahrscheinlich ein sehr billiges Begräbnis werden“, sagte derselbe Sprecher, „denn, so wahr ich lebe, ich kenne keinen, der mitgehen wollte. Wie wäre es, wenn wir uns zusammentäten und freiwillig gingen?“
„Ich habe nichts dagegen, sofern für ein Frühstück gesorgt ist“, bemerkte der Herr mit dem Auswuchs an der Nase. „Ich muß aber abgefüttert werden, wenn ich mitmache.“ Erneutes Gelächter.
„Na, da bin ich wohl der Uneigennützigste von Ihnen hier“, sagte der erste Sprecher, „denn ich trage nie schwarze Handschuhe und frühstücke nie. Aber ich erbiete mich zu gehen, falls noch jemand mitgeht. Wenn ich es mir so überlege, bin ich nicht ganz sicher, ob ich nicht sein besonderer Freund war, denn jedesmal wenn wir uns trafen, blieben wir stehen und sprachen miteinander. Wiedersehen!“
Sprecher und Zuhörer schlenderten weg und mischten sich unter andere Gruppen. Scrooge kannte die Männer und blickte den Geist, um eine Erklärung bittend, an.
Die Erscheinung schwebte auf die Straße hinaus. Ihr Finger zeigte auf zwei sich begegnende Personen. Scrooge lauschte wieder und glaubte, hier die Erklärung zu finden.
Auch diese Männer kannte er genau. Es waren Geschäftsleute, sehr reich und von großem Einfluß. Er hatte immer Wert darauf gelegt, hoch in ihrem Ansehen zu stehen, das heißt vom geschäftlichen Standpunkt aus, nur vom geschäftlichen Standpunkt aus.
„Wie geht es Ihnen?“ fragte der eine.
„Wie geht es Ihnen?“ fragte der andere.
„Na“, sagte der erste. „Endlich hat’s den alten Geizhals auch erwischt, was?“
„Ich habe es gehört“, erwiderte der zweite. „Kalt, was?“
„Es ist eben Weihnachten. Sie sind wohl kein Schlittschuhläufer?“
„Nein, nein. Habe an anderes zu denken. Guten Morgen!“
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