Allein die Angst
Handtasche. »Die hab ich in Brent Cross mitgenommen. Ich hab mir schon gedacht, dass du nicht dazu kommst.«
»Danke«, murmle ich. »Aber ich weiß nicht so recht. Sie ist müde und …«
Und ich will sie nicht aus den Augen lassen.
Suzy steht auf und fasst mich an beiden Schultern.
»Was ist denn los, Honey? Hast du kein Vertrauen zu mir?«
Ich blicke in Suzys freundliches Gesicht, und alle Gefühle der letzten zwölf Stunden sprudeln wieder hoch. Ich erinnere mich, was Jez von Suzys momentaner Anspannung gesagt hatte. Ich selbst bin fix und fertig. Ich kann diese Frau einfach nicht noch mehr verletzen.
»Doch, doch. Klar hab ich Vertrauen zu dir …«
»Na, dann lass mich Rae doch mitnehmen. Du hast eine Wahnsinnswoche hinter dir. Leg die Füße hoch, zieh dir einen Film rein. Und wenn der Polizeibeamte anruft, kannst du in aller Ruhe mit ihm reden, ohne auf Rae Rücksicht zu nehmen. Droben an der Eisbahn ist es auch ziemlich laut.«
Als ich gestern Nacht endlich eingeschlafen bin, habe ich geträumt, dass Rae mit blauen Lippen auf ihren Schlittschuhen an mir vorbeiglitt; ich rief dauernd, bleib stehen, aber sie drehte sich nicht einmal um.
»Du siehst aber toll aus, Süße!«, ruft Suzy über meine Schulter – Rae muss hereingekommen sein. »Bist du schon fertig?« Sie zwinkert ihr zu.
Ich drehe mich um und sehe Rae in ihrem Partykleid, vor Aufregung hat sie rote Bäckchen. Panik steigt in mir hoch.
»Tut mir leid, Suze, aber mir ist doch lieber … Ich will einfach nicht …«
»Nein!«, schreit Rae, den Blick fest auf Suzy gerichtet. »Mummy, nein! Ich will da hin!« Sie bricht in Schluchzen aus. »Das ist nicht fair, nie darf ich was Schönes machen,
nie
im
Leben
. Nie darf ich auf Partys. Und Hannah will, dass ich komme.«
Sie schiebt die Unterlippe vor, die jeden Moment erzittern wird. Letzte Woche konnte ich an nichts anderes denken, als Rae endlich eine echte Chance zu geben, normal zu leben. Und jetzt tue ich genau das Gegenteil. Ruiniere mit meiner Ängstlichkeit wegen minimaler Risiken ihre Lebensfreude.
»Honey«, sagt Suzy und fasst mich an den Schultern. »Hör mal. Hör mal auf Aunty Suzy …« Ich lächle sie widerstrebend an. »Du weißt doch, dass ich sie beschützen werde wie eine Löwin ihr Junges. Wenn du dir Sorgen machst, komm einfach später nach, wenn du mit der Polizei gesprochen hast. Jez kommt später auch noch, mit den Zwillingen, dann sind sowieso zwei Erwachsene da.«
Rae bricht in Jubelgeschrei aus und hüpft auf und ab.
»Na schön«, murmle ich und würge die Stimmen in meinem Kopf ab.
Ich gehe zu dem Dielenschrank, nehme eine große Tüte heraus, die Debs mit »Winter« beschriftet hat, und ziehe eine gefütterte Jacke hervor.
»Suzy, da drinnen ist es kalt. Wenn sie aussieht, als würde sie frieren, kannst du ihr dann bitte die Jacke überziehen?«
»Klar, Honey.«
Sie sieht mich an und fasst mich wieder am Arm.
Dann hebt sie Rae hoch und setzt sie auf meinen Schoß. Rae und ich geben uns einen Kuss auf den Mund. Wie weich ihre Lippen sind, denke ich. Ihr Kuss so zart und süß wie ein kleiner Pfirsich. Am liebsten hätte ich sie verschlungen, mir einverleibt, damit sie hierbleibt. In Sicherheit.
»Sag tschüs zu Mummy«, fordert Suzy sie auf.
Und ich lasse Rae los.
Kapitel 43 Debs
Der Lärm hatte zwar aufgehört, aber Debs musste nun unbedingt aus dem Haus, an die frische Luft. Allen hatte letzten Samstag, als er vom Cricket nach Hause kam, in einem Gartencenter ein paar goldene Ringelblumen gekauft; Debs ging mit den Pflanzen in den Vorgarten und hockte sich vor das kleine Beet, um sie einzusetzen. Sie atmete tief, um sich zu entspannen.
Es dauerte eine Weile, bis sie die Stimmen vernahm.
Die Amerikanerin.
Debs duckte sich und spähte durch die hohe Hecke. Suzy stand vor Callies Haustür, Rae fest an der Hand.
Durch die Blätter sah Debs, wie Suzy und Rae Callie zuwinkten; die Haustür wurde geschlossen.
»Ich hab’s geschafft!«, juchzte Rae und kicherte. »Mummy hat mich gelassen!«
»Schlaues Mädchen. Ich hab’s dir doch gesagt.«
»Gehen wir zu Fuß zu Ally Pally, Aunty Suzy?«, hörte Debs das kleine Mädchen rufen.
Suzys Antwort konnte sie nicht verstehen, aber die beiden überquerten die Straße und blieben unmittelbar vor Debs’ Versteck stehen. Debs kauerte gelähmt am Boden, wie eine Maus in den Krallen einer Katze. Die beiden standen so dicht vor ihr, dass sie sie durch die Hecke hätte berühren können. Dann piepte es,
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