Allein die Angst
entdeckte sie Suzy. Die Amerikanerin war wieder zu Hause.
Im Oberlicht über Suzys Haustür war das ursprüngliche Buntglas durch modernes klares Glas ersetzt worden. Durch diese Scheibe sah Debs Suzy auf ihrer Treppe sitzen, auf halber Höhe, den Hörer am Ohr.
Debs starrte sie an. Die Frage beschäftigte sie schon den ganzen Tag: Hatte diese Frau ihr gesagt, sie solle Rae an der Hand halten, oder nicht?
Sie brauchte eine Weile, bis sie das Geräusch bemerkte, das durch das offene Fenster drang. Ein vertrautes Geräusch. Ein Telefon, das in der Ferne klingelte. Die Welt schien ein paar Sekunden lang stillzustehen, als Debs fieberhaft versuchte, das Klingeln zu orten. Suzys Telefon konnte es nicht sein, da sie selbst telefonierte.
Dann musste es … Debs’ eigenes Telefon sein.
Ihre Augen hefteten sich wieder auf Suzy. Ihre Augen und Ohren versuchten die Erkenntnis von gerade eben zu verarbeiten und aus dem, was sie wahrnahmen, sinnvolle Schlüsse zu ziehen.
Debs’ Augen sahen Folgendes: Suzy beendete das Gespräch.
Debs’ Ohren hörten Folgendes: Das Telefon in ihrem eigenen Haus hörte im selben Moment auf zu klingeln.
Wie eigenartig. Warum sollte diese Frau Debs anrufen?
Am rechten Rand ihres Gesichtsfelds bewegte sich etwas. Debs drehte den Kopf und sah jemanden die Straße entlangkommen. Es war Allen, in dem schicken Regenmantel, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Du lieber Himmel, schon so spät? Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie musste hier schnell Schluss machen und mit dem Abendessen anfangen.
Je näher ihr Mann dem Gartentor kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Die Lider hingen ihm schwer über die Augen, und wieder einmal wünschte sich Debs insgeheim, er würde seine Brille durch Kontaktlinsen ersetzen. Er hatte doch so hübsche Augen. Haselnussbraun mit gelben Punkten, und von langen, sandfarbenen Wimpern umrahmt. Aber hinter dem altmodischen Brillengestell mit den dicken Gläsern wirkte er leicht glubschäugig. Zudem betonte die schwarze Fassung seine buschigen, drahtigen Augenbrauen, die hochstanden wie unter Strom. Debs wusste als Einzige, wie Allens Augen wirklich aussahen. Als er die Brille zum ersten Mal abnahm, war sie über die unverhüllte Intensität seines Blicks so erschrocken, dass sie sich errötend abwandte. Sie hatte den Blickkontakt als unerwartet intim empfunden.
Auch jetzt wurde ihr wieder ein bisschen warm vor Liebe bei dem Gedanken, wie klaglos ihr Mann hinnahm, dass ihm nur wenige körperliche Vorzüge beschieden waren. Seine Mutter hatte ihm auch nie gezeigt, wie er mehr aus sich machen konnte – aus Angst, sie könnte ihn verlieren, vermutete Debs. Aber jetzt stand ja sie ihm zur Seite. Sie würde ihm schon auf die Sprünge helfen.
Debs beobachtete, wie Allen die Tür aufschloss; ihr fiel auf, wie ihm die Schultern nach vorn sackten vor Beklemmung, welches Drama ihn wohl diesmal wieder erwartete. Heute Abend keines, Schatz, versprach sie ihm stumm. Heute Abend würde sie lächeln und fröhlich sein; sie würde weder die Poplars noch Flugzeuge, noch die Kinder von nebenan erwähnen. Sie würde ihn einfach fragen, wie sein Tag verlaufen war, und ihm die Aufmerksamkeit schenken, die er verdiente. Zumindest heute würden sie einen schönen Abend miteinander verbringen.
Debs wollte sich abwenden, da hörte sie erneut ihr Telefon klingeln, lauter jetzt, weil die Haustür offen stand. Sie sah zu, wie Allen den Aktenkoffer absetzte, ein gutes Stück, das sie als Sonderangebot ergattert hatte. Nebenbei registrierte sie, dass Suzy ihre Haustür öffnete und den Doppelbuggy hinausschob; ihr älterer Sohn hielt sich am Griff fest.
Merkwürdig.
Die Amerikanerin klemmte auch jetzt wieder den Hörer ans Ohr.
Hypnotisiert beobachtete Debs, wie Allen sich aufrichtete, durch die Diele ging und den Arm nach dem Telefon ausstreckte.
Mit plötzlicher Klarheit sah Debs voraus, was nun geschehen würde. Blitzschnell sah sie zu Suzy hinüber, die den Hörer vom Ohr nahm und jäh auf einen Knopf drückte.
Sofort hörte das Telefon auf zu klingeln – vor Allens Nase.
Debs erstarrte. Ihr Mann wandte sich verwirrt zur Tür zurück. Er schloss sie leise, ohne Suzy zu bemerken, die nur ein paar Meter neben ihm stand.
Suzy brachte den Hörer in ihr Haus zurück, machte ihre Haustür zu und ging mit ihren drei Kindern zum Gartentor.
Debs überlief es kalt.
Die ganze Woche hatte sie durch die Wand die Kinder von nebenan trampeln gehört, über den
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