Allein in der Wildnis
Stimme, die ihn vor der Gefahr warnte. Unlängst war es wieder ein Bär gewesen. Brian war zu den Brombeerhecken gegangen, um sich an den letzten Früchten des Sommers zu laben. Da hatte er diese leise Warnung vernommen. Und als er aufblickte – sah er eine Bärin mit ihren zwei Jungen.
Wäre er weitergegangen, nur ein paar Schritte, dann wäre er zwischen die Bärenmutter und ihre Jungen geraten. Kein guter Platz, um länger zu verweilen. So aber hatte die Bärin sich nur aufgerichtet und ein leises Knurren ausgestoßen. Sie hatte Brian gewarnt und sich dann mit ihren Jungen getrollt. Seit damals hatte er gelernt diesem Gefühl der Wachsamkeit zu vertrauen. Auch jetzt stand er wieder da und wartete geduldig.
Hörte er etwas? Fühlte und roch er etwas? Brian drehte sich um – und da stand ein Wolf. Nicht weit vom Ufer entfernt, halb verdeckt in den Büschen am Fuß des Hügels. Nur der Kopf und die Schultern waren zu sehen. Mit einem langen Blick aus gelben Raubtieraugen schaute er herüber. Noch nie hatte Brian einen Wolf gesehen und staunte, wie groß er war. Nicht ganz so groß wie ein Bär, aber Respekt gebietend. Ein König der Wälder, der alles in seinen Bann zog.
Brian erwiderte seinen Blick und fürchtete sich, weil der Wolf so … unwahrscheinlich echt wirkte, wie er dort stand. Der Wolf kannte Brian und Brian gehörte ihm, war sein Spielzeug oder seine Beute. Und trotzdem hatte der Wolf anscheinend beschlossen ihm kein Leid zu tun. Und dann war Brians Furcht verschwunden, sie war ausgelöscht, denn jetzt wusste er, was der Wolf war – nämlich ein Teil der Wildnis, ein Teil dieser Welt, zu der er gehörte wie alles andere hier. Brian ließ den Speer sinken, den er abwehrend schon gehoben hatte, und nahm ihn in die andere Hand. Er hatte den Wolf erkannt, genau wie er wusste, dass der Wolf ihn erkannt hatte. Er nickte ihm zu, diesem König, und lächelte.
Der Wolf beobachtete ihn eine Weile, eine Ewigkeit lang. Dann wandte er sich ab und trabte locker den Hügel hinauf. Als er aus dem Unterholz trat, folgten ihm drei weitere Wölfe, alle ebenso groß und schön wie der erste. Sie alle wandten den Kopf nach Brian und sahen ihn an und Brian nickte ihnen zu und lächelte.
Er war nicht mehr derselbe – dieser Brian, der dort stand und den Wölfen nachschaute, furchtlos lächelnd. Er hatte sich völlig verändert. Zeit war vergangen, viel Zeit, die er nach Tagen zählte, ohne groß darüber nachzudenken. Die Zeit war durch sein Leben hindurchgegangen und hatte ihn verändert.
Siebenundvierzig Tage waren seit dem Flugzeugabsturz vergangen. Als das Rettungsflugzeug gekommen und wieder verschwunden war, hatte er sich vernichtet gefühlt. Das Ende aller Hoffnung hatte ihn zerstört. Er überließ sich nur den schwarzen Gedanken, die ihn umhüllten wie ein Leichentuch.
Er hatte sterben wollen. Immer tiefer war er in die Finsternis der Verzweiflung eingesunken, bis er in lichtloser Nacht noch einmal zur Klippe hinaufgestiegen war, wo er das Beil vergessen hatte und sich die Adern aufzuschneiden versuchte.
Es war Wahnsinn, der ihn wie ein Wirbel verschluckt und in die Tiefe gezogen hatte. Nichts mehr war ihm geblieben – und er wollte selbst zu einem Nichts werden. Aber das Leben ließ ihn nicht los, auch wenn er es wegwerfen wollte. Und schließlich hatte er sich ausgestreckt, das Gesicht auf dem kalten Stein, und war eingeschlafen.
Doch es war eine besondere Art von Schlaf gewesen: Die Augen geschlossen, aber die Seele weit offen, so lag er die ganze Nacht auf der Klippe, glühend vor Auflehnung und Hass. Die ganze Welt sollte untergehen, der Himmel einstürzen und ihn mit seinen schwarzen Wolken einhüllen.
Als der Morgen dämmerte, war Brian noch immer da. Noch immer lag er auf dem Bauch, als die Sonne aufging. Er schlug die Augen auf und sah die Schnitte an seinen Armen, das getrocknete Blut, das schwarz geworden war. Er ekelte sich vor dem Blut und verabscheute die Tat, die er getan hatte, als er noch der alte und schwache Brian gewesen war. Zwei Dinge waren ihm bewusst geworden, zwei Wahrheiten. Er war nicht mehr derselbe.
Nein, er war nicht mehr der alte Brian. Das vorbeifliegende Flugzeug hatte ihn verändert. Die Enttäuschung hatte ihn niedergeworfen und über Nacht erneuert. Er war nicht mehr derselbe, der er gewesen war, und würde es nie wieder sein. Dies war eine der beiden Wahrheiten.
Und die andere war, dass er nicht sterben würde. Er würde den Tod nicht einfach hinnehmen. Er würde
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