Allein mit dem Teufel: Roman (German Edition)
während er darauf wartete, dass ich mit dem gewünschten Vergleich fertig wurde, hörte ich irgendeinen Typen auf dem Flur lauthals »Pizza in der Lobby« brüllen.
Ohne auf meine Armbanduhr zu schauen, wusste ich genau, wie spät es war. Jeden Freitag während der vergangenen sechs Wochen rief irgendein Typ um halb elf »Pizza in der Lobby!« über den Flur. Und jeden Freitag um halb elf brach die Etage inbegeisterten Applaus aus, der es locker mit dem im Yankee-Stadion aufnehmen konnte. Ich hatte vom ersten Tag an bei Cromwell einen Einblick in die Essgewohnheiten der Händleretage gewonnen. Hunderte von Eier-und Käse-Sandwiches, die vor Fett nur so trieften, wurden in Windeseile vertilgt. Damals war mir noch nicht klar, welch bedeutende Rolle Essen in der Finanzwelt spielte. Jeden Tag gab es Bagels oder Eiersandwiches oder Donuts. Das Essen wurde feierlich in riesigen Pappkartons im Abstand von drei Metern über den gesamten Fußboden verteilt wie Landminen aus Papier. Innerhalb von Sekunden stürz ten sich erwachsene Männer auf sie wie wütende Bienen auf einen Bienenkorb und schnappten sich, was immer sie zu fassen kriegten. Kein Mensch käme auf den Gedanken, dass Männer, die siebenstellige Gehälter bezogen, sich derartig viel aus Gratis-Donuts machten. Aber so war es.
Essenszeit bei Cromwell war wie Fütterungszeit im Zoo: Wenn du schnell und stark warst, bekamst du als Erster was ab, wenn du klein und langsam warst, gingst du dem Ansturm besser aus dem Weg. Ein Paradebeispiel für Darwins Theorie, dass nur der Stärkste überlebt, angewandt auf gesunde, gut ernährte Männer. Die Lieferoptionen waren nicht auf die üblichen China- oder Pizzabuden beschränkt. Wenn jemandem danach war, für zweitausend Dollar Penne à la Wodka, Kalbfleisch mit Parmesan und Caesar Salad zum Lunch in einem teuren Restau rant zu bestellen, das keinen Lieferservice hatte, lieferten es der Küchenchef und die Kellner höchstpersönlich. Manchmal gab es Grillhähnchen, manchmal was aus einem Barbecue laden; manchmal Huhn Lo Mein oder Cheeseburger und Pom mes. Nachmittags, wenn alle abschlafften, tauchte grundsätzlich jemand mit drei Dutzend Milchshakes, Eiscreme-Sandwiches oder Tüten mit Süßigkeiten auf. Wenn jemand Geburtstag hatte, bestellten die Sekretärinnen riesige Eistorten und haufenweise Schokokekse. Ich war ziemlich sicher, dass ich demnächst zweihundert Pfund wiegen würde. Und ich war Single. Das war nicht gut.
Chick drückte auf den Knopf der »Flüstertüte«, mit der er die gesamte Etage beschallen konnte. »Alles klar, Frankie! Pizzas sind in fünf Minuten hier, und wenn nicht, darfst du mit meiner Erlaubnis meine Analystin vermöbeln.« Er wies mit der rechten Hand auf mich. »Girlie-Sklavin, hol die Pizzas und bring sie zu Frankie. Los.« Chick glaubte, dass Dinge sich von selbst erklärten und Eigeninitiative nützlich war. Meistens hatte ich es auch geschafft, ohne um weitere Erklärungen zu bitten, bis jetzt jedenfalls. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass ich nicht wusste, wie viele Pizzas ich abholen sollte, oder wie ich sie bezahlen sollte, oder wer zum Teufel Frankie war, hielt ich es für angebracht, einige Fragen zu stellen.
Ich stand nervös hinter seinem Schreibtisch. »Entschuldige, Chick. Wie viele Pizzas soll ich holen, und wie soll ich sie bezahlen?«, fragte ich.
»Müssen meine Schuhe neu geputzt werden?«, antwortete er und betrachtete prüfend seine makellos sauberen Loafer. »Hey, Wash!«, rief er den Schuhputzer der Etage zu sich. »Kommst du mal, Kumpel? Meine Schuhe sehen ein bisschen mitgenommen aus.« Der Mann mit dem Schuhputzkasten kam herüber, stellte seinen Hocker auf und begann, Chicks Schuhe zu putzen.
Er sah mich an, als wäre ich eine lästige Stechmücke. Dann, ohne mir zu antworten, brüllte er über seine Schulter: »Willy! Bist du da hinten?« Ein Typ Mitte bis Ende zwanzig, der in der hinteren Reihe saß, sprang von seinem Bildschirm hoch. Er lutschte einen Lolli. Ich hatte ihn bisher noch nicht bemerkt, was merkwürdig war, weil er gut aussah.
»Was gibt’s, Chick?«, rief er zurück und hielt sich weiter das Telefon ans Ohr.
»Komm hier rüber und hol mit Alex die Pizzas.« Kein Bitte, kein Danke, nur der Befehl. Holt die Pizzas.
Dreißig Sekunden später kam Will zu Chicks Schreibtisch und winkte mir, ihm zu folgen. Er trug das übliche blaue Button-Down-Hemd unter einem dunkelgrauen Henley Pullover. Er hatte schwarze Haare und blaue Augen und sah fit
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