Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)
das Publikum in der Bar an; es ist ungefähr so arm wie er.
Welche Philosophie steckt hinter einer Bar, welche Idee?
»Daß Sie sich an einem Ort zu Hause fühlen können, an dem Ihnen Ihre Frau nicht sagt: ›Morgen gehen wir zusammen ins Kino.‹ Die Barkeeper sollten nicht zu vertraulich mit den Gästen sein, das sage ich meinen Angestellten.«
Warum kommen die Leute in die Bar?
»Um einfach alles zu vergessen.«
Diese reichen Leute sind nicht glücklich?
»Nein. Das ist das Zeichen unserer Zeit. Wir leben in einer sehr oberflächlichen Welt. Die Bars sind zu laut, auch Schumann’s, und die Leute können sich kaum unterhalten. Die meisten kommen hierher, um andere zu beobachten. Sie sitzen hier und beobachten, sie halten Ausschau und freuen sich, wenn sie gutaussehende Menschen sehen. Das bringt sie in Stimmung. Ich selbst mache das manchmal nachmittags. Ich setze mich draußen hin und beobachte die Passanten. Und manchmal sage ich: Ich wünschte, die Welt würde absaufen.«
Warum das?
»Weil die Menschen sich so schlecht benehmen. Und wie schlecht sich manche erst kleiden!«
Was haben Sie in 30 Jahren, die Sie jetzt die Gäste Ihrer Bar beobachten, über die menschliche Natur gelernt?
»Ich bin kein Menschenfreund.«
Bitte um eine Erklärung.
»Nur sehr wenige Menschen sind nicht egoistisch. Ich sehe, wie sie sich verhalten. Sie sind nicht höflich. Sie sind nicht weltmännisch. Sie sind schlecht angezogen, ohne Geschmack. Einer wie der andere.«
Wenn Sie sich Ihre Nationalität frei aussuchen könnten, für welche würden Sie sich entscheiden?
»Nicht die deutsche.«
Warum nicht?
»Die Deutschen sind zu bleiern. Sie wissen nicht, wie man sich entspannt.«
Ich merke gerade, daß ich vergessen habe, für meine Studenten zu beten. Meine Güte. Aber für Reuegefühle ist jetzt keine Zeit. Charles lädt mich zum Mittagessen im Hof ein. Das muß ich annehmen. Ein Mittagessen kann man nicht ausschlagen.
Und ich bin froh, daß ich die Einladung angenommen habe. Jetzt erst bekomme ich ein richtiges Gefühl für Schumann’s Bar. Erstens ist es Charles. Er mischt überall mit. Er kennt seine Klientel und begrüßt sie persönlich. Hat er sie bei ihrer Ankunft verpaßt, dann kneift er ihnen später in die Wange, sobald er an ihrem Tisch vorbeikommt. Er liebt es, die Leute zu bedienen, und tut praktisch nichts anderes. Die Regel, nicht zu vertraulich mit den Gästen zu sein, gilt für ihn nicht. Das Essen, das preislich im Rahmen bleibt, ist ausgezeichnet. Und im Unterschied zu Cohen’s ist dieses Restaurant rammelvoll. In Wirklichkeit ist dies kein Restaurant und auch keine Bar. Es ist ein Club. Ein Club für eine bestimmte Klasse von Menschen. Und er, König Charles I., wacht über jedes Detail. Kein Tisch bleibt leer, kein Glas trocken. Vor Zeiten herrschte hier König Ludwig, jetzt ist es Charles. Und König Charles I. entscheidet, daß ich keine Cola trinken werde. Wein ist besser. Weißer Wein statt dunkler Cola. Ich gehorche. König Charles kneift mir in die Wange. Ich bekomme die vollen Bürgerrechte. Ich bin ein stolzer Schumannianer.
Der Rucola-Kartoffelsalat mit Pulpofindet im Eiltempo seinen Weg von meinem Mund in meinen Magen, wobei sich alles dazwischen für den himmlischen Genuß bedankt. Das Hacksteak mit Spitzkohl überzeugt nicht weniger. Das Beste aber an diesem heißen Tag ist der Drink, der den Magen schließt. Der Lillet Lacanau – mit viel Eis, Campari, Orangensaft und einem Orangenschnitz – betört den Geruchssinnbeim Trinken. »Ich bin eine Flasche«, sagt mir Charles, »und ich sauge diese Zutaten in mich hinein.« Der Mann ist ein Poet.
Plötzlich fallen mir die Studenten wieder ein. Ich habe ihnen versprochen, an ihrer Demo teilzunehmen. Ich muß gehen! Doch vorher hat Charles mir noch etwas Wichtiges zu sagen:
»Es gibt eines, was ich meinen Angestellten nicht beibringen kann, nämlich die Fähigkeit, zu registrieren, wenn jemand Interessantes die Bar betritt. Das ist mein Part, und dieser Menschen nehme ich mich an.«
Das tut er zweifellos.
Ich begebe mich zu meinen Studenten. Auch ich demonstriere. Keine übermäßig schwere Tätigkeit. Mir fallen zwei junge Leute auf, die ich zuvor noch nicht gesehen habe, Kerem und Lisa, die hier herumsitzen und die Passanten beobachten. Er ist ein atheistischer Muslim, sie eine atheistische Christin. Beide sind eingefleischte Kommunisten. Sie wollen, daß Deutschland ein kommunistischer Staat wird. »Kommunismus ist gut«,
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