Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise (German Edition)
ist sehr provinziell. Die Projekte, die ich mache, sollen lieber schäbig und emotional sein als sauber und politisch korrekt – und das geht besser im Ruhrgebiet als irgendwo sonst in Deutschland. Hier sind die bodenständigen Menschen zu Hause. Diese Gegend war nie ein Hort des Bürgertums, wo du dreieinhalb Euro für einen läppischen Kaffee zahlst.«
Es ist dir vielleicht nicht aufgefallen, aber genausoviel kostet meine kleine Cola, genau hier.
Rolf sieht mich an.
Wieviel Geld treibst du im Jahr auf, minimal und maximal?
»Zwischen 60000 und 180000 Euro.«
Was versuchst du mit deiner Arbeit zu bewirken?
»Sie ist mein Leben. Ich muß das tun. Das ist eine dumme Antwort, ja. Ich ziehe es vor, im Offenen zu arbeiten, ich will atmen, nicht in einer Black Box stecken.«
Was willst du wirklich erreichen? Nur, daß du atmen kannst?
»Ich habe einmal ein Projekt auf einem Friedhof gemacht. Theater und Tanz. Die Leute kommen auf den Friedhof und müssen zwischen den Gräbern hindurchgehen und treffen überall auf verschiedene Tänzer, verschiedene Theaterstücke, zwei Gräber im Gespräch miteinander. Das ist sehr schön. Menschen, die normalerweise nie ins Theater gehen, kommen, um sich das anzuschauen. Und sie werden dieses Erlebnis nie vergessen.
Diese Möglichkeit, den Menschen die Erfahrung von Kunst machen zu lassen, verschafft mir ein gutes Gefühl. Meine Produktionen sind nichts für das übliche Theaterpublikum, also die Leute, die ins Theater gehen und sich dann darüber unterhalten, wie sie das Stück beim letzten Mal fanden, um die Inszenierung, die sie in Paris gesehen haben, mit der jetzigen zu vergleichen.«
Machst du deine Arbeiten für dich? Oder für die Menschen?
»Ich kann ohne sie nichts machen, und sie hätten sie nicht ohne mich. Ich mache es für uns beide.«
Wie viele Besucher haben deine Produktionen?
»Bei diesem Festival haben wir mit 500 Besuchern gerechnet, es kamen aber nur 20.«
Nur um das zu verstehen: Du gehst also zum Dortmunder Bürgermeister und sagst, ich hätte gerne 180000 Euro, weilich eine Performance für 20 Menschen machen will. Ist das so?
»Es gibt kein Gesetz in Deutschland, das Besucherzahlen vorschreibt. Geld wird für Kreativität ausgegeben. So hat es sich hierzulande historisch entwickelt.«
Ist das nicht krank?
»Nein. Ich halte es für absolut wichtig. Nur an Geld, an den Kommerz zu denken, zerstört die Kunst. Völlig.«
Was ist dir wichtig?
»Ich möchte einfach nur dasitzen und den Leuten dabei zuschauen, wie sie essen, gehen, trinken. Und dafür brauche ich Geld.«
Charles Schumann, darf ich Ihnen Ihren Kompagnon vorstellen?
Ich möchte sichergehen, daß ich dich richtig verstanden habe: Du willst von der Stadt Dortmund Geld dafür, daß du dir die Münder und Beine von Leuten ansehen kannst?
»Ja.«
Wirklich?
»Ja, weil das auf die eine oder andere Art zu einer kreativen Arbeit führt.«
So ist Rolf. Er hat keinen blassen Schimmer von PR und kann kaum ein Interview geben, hat aber immer erfrischende und brillante Einfälle, dafür verbürge ich mich. Sein Land muß ihn erst noch entdecken, und es ist traurig, daß die deutschen Kritiker ihn nicht kennen, daß sie seit drei Jahrzehnten zu bequem sind, hierherzukommen und die Arbeit dieses Mannes in Augenschein zu nehmen. Es ist aber eher ihr Schaden als seiner.
Gleich beginnt Rolfs Public Thinking. Und so sind die Regeln dieses Spiels: Man kommt herein und wird von einem jungen Mädchen gefragt, worüber man nachdenken möchte.Man kann eines von zehn Themen auswählen oder sich selbst eins ausdenken. Vor einer ehemaligen Fabrik sind Stühle aufgestellt, man sucht sich einen aus und denkt öffentlich . Was in diesem Fall heißt, zusammen mit anderen, die ebenfalls über ihre bevorzugten Themen nachdenken. Mit anderen Worten: Es handelt sich um so etwas wie einen Verein, einen Verein von Leuten, die zusammenkommen, um nebeneinander zu denken. Vielleicht wußten Sie das noch nicht, aber in Deutschland tun wir Dinge am liebsten in Gruppen.
Ausgezeichnet. Ich mache mit und denke mir mein eigenes Thema aus: Fußball. Ein Thema, das mich natürlich jeglichen Nachdenkens enthebt. Ich betrachte den Himmel und die Wolken, wie sie gemächlich vorüberziehen. (Diesen Trick habe ich mir von arabischen Händlern in Ost-Jerusalem abgeschaut. An Tagen, an denen sich geschäftlich rein gar nichts tut, sitzen sie vor ihren Läden, rauchen ihre Wasserpfeifen und verfolgen den Lauf der Sonne. Versuchen
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