Aller guten Dinge sind vier
einen Brief für dich gegeben.«
»Wer? Mary Lou?«
»Nein, nicht Mary Lou, die kenn ich doch. Es war jemand, den ich nicht kenn. Eine wirklich hübsche Person. Wahrscheinlich ist sie so eine Kosmetikerin wie die im Einkaufszentrum. Sie hatte nämlich die Schminke pfundweise im Gesicht.«
»Doch nicht Joyce!«
»Nein, ich sag dir doch, ich hab sie nicht gekannt. Der Brief liegt in der Küche. Auf der Arbeitsplatte, neben dem Telefon.«
Ich stand auf und ging raus, um mir den Brief anzuschauen. Er steckte in einem kleinen verschlossenen Umschlag. »Stephanie« stand in sauberen Druckbuchstaben vorn drauf. Es sah aus wie eine Einladung zu einer Brautparty oder einer Geburtstagsfeier. Ich riß den Umschlag auf und schnappte entsetzt nach Luft. Der Text war kurz und bündig. »Krepieren sollst Du, Du Miststück.« Und in kleinerer Schrift stand darunter, er würde zuschlagen, wenn ich es am wenigsten erwartete. Geschrieben war das alles auf ein Kochrezeptkärtchen.
Aber noch mehr als der Inhalt des Briefes erschreckte mich die Tatsache, daß es Sugar gelungen war, schnurstracks in das Haus meiner Eltern zu marschieren und Großmama die Nachricht in die Hand zu drücken.
Ich setzte mich wieder an den Tisch und verdrückte ruckzuck noch eine Roulade. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich mußte meine Familie warnen, aber ich wollte sie auf keinen Fall zu Tode erschrecken.
»Also?« fragte Großmama. »Was war in dem Brief? Ausgesehen hat es wie eine Einladung.«
»Ach, das war eine Frau, die ich durch die Arbeit kenne«, erklärte ich. »Sie ist eine ziemlich unangenehme Person, wenn sie also noch mal vorbeikommen sollte, laßt sie auf keinen Fall ins Haus. Am besten macht ihr ihr gar nicht auf.«
»O mein Gott!« rief meine Mutter. »Noch eine Verrückte! Sag mir nur, daß sie es nicht darauf abgesehen hat, dich zu erschießen.«
»Na ja, genau genommen…«
Meine Mutter bekreuzigte sich. »Heilige Maria, Mutter Gottes …«
»Die Heilige Maria brauchst du jetzt nicht gleich anzurufen«, sagte ich zu meiner Mutter. »So schlimm ist es auch wieder nicht.«
»Was soll ich tun, wenn sie sich noch mal blicken läßt?« erkundigte sich Großmama. »Soll ich ihr ein nettes kleines Loch verpassen?«
»Nein! Ich will nur nicht, daß ihr sie zum Tee einladet.«
Mein Vater nahm sich noch von den Kohlrouladen. »Tu das nächstemal nicht so viel Reis rein«, sagte er.
»Frank«, fuhr meine Mutter ihn an, »hörst du eigentlich zu?«
Mein Vater hob den Kopf. »Was denn?«
Meine Mutter schlug sich vor die Stirn.
Sally hatte die ganze Zeit tief gebeugt über seinem Teller gesessen und Rouladen reingeschaufelt, als stünde eine Hungersnot bevor. Jetzt schaute er hoch und sah mich an, und ich konnte förmlich hören, wie es in seinem Gehirn arbeitete. Hübsche Person. Dick geschminkt. Ein Brief, unangenehme Person. »O-o«, sagte Sally.
»Ich muß gleich nach dem Essen wieder weg«, sagte ich zu meiner Mutter. »Ich muß heut abend arbeiten.«
»Ich hab Schokoladenplätzchen zum Nachtisch.«
Ich legte meine Serviette auf den Tisch. »Ich pack sie mir ein.«
Meine Mutter sprang auf. »Nein, laß mich das machen.«
Im Viertel herrschten strenge Bräuche. Fürs Einpacken waren die Mütter zuständig. Nichts daran zu rütteln. Keine Ausnahmen. Im ganzen Land achtete jeder nur darauf, wie er Arbeit loswerden konnte. In unserem Viertel hüteten die Hausfrauen ihren Aufgabenbereich mit Militanz. Selbst berufstätige Mütter lehnten es kategorisch ab, das Einpacken von Pausebroten oder Resten anderen zu überlassen. Zwar wurden von Zeit zu Zeit andere Familienmitglieder herangezogen, den Küchenboden zu putzen, die Wäsche zu machen oder die Möbel zu polieren, aber keiner konnte den Ansprüchen der Hausfrau wirklich genüge tun.
Ich nahm die Tüte mit den Plätzchen und zog zusammen mit Sally ab. Es war noch früh, wir hätten eigentlich noch nicht zu gehen brauchen, aber ich fühlte mich dem Verhör nicht gewachsen. Es gab keine Möglichkeit, meiner Mutter schonend beizubringen, daß ein mordlustiger Transvestit es auf mich abgesehen hatte.
Meine Mutter und Großmama hatten uns zur Tür gebracht und warteten dort, während wir in den Wagen stiegen. Da standen sie, kerzengerade, mit gefalteten Händen und fest aufeinandergepreßten Lippen. Gute ungarische Frauen und Mütter. Meine Mutter fragte sich wahrscheinlich, was sie falsch gemacht hatte, wieso ich mit einem Mann, der Straßohrringe trug, rumzog. Meine
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