Aller Tage Abend: Roman (German Edition)
nun, nach vier Jahren Krieg, eine verwilderte Stadt, und auch sie war hier verwildert. Mit so viel Hoffnung war sie damals, als die Versetzung ihres Mannes sicher war, noch einmal allein hierher gefahren, um eine Wohnung zu finden. Sie weiß noch, wie sie zum ersten Mal in dieses Haus eintrat, das nach Kalkstein und Staub roch, so wie es nur in den Häusern einer Weltstadt nach Kalkstein und Staub roch. Schattig und kühl war es im Hausflur, während draußen die Hitze stand wie ein Block. Wäre ihr Mann mitgekommen, hätte er ihr, wenn niemand es sah, schnell seine Hand unter die Achsel gesteckt, und sie hätte gesagt, lass das, und gelacht. Bevor sie zur Wohnungsbesichtigung in den 2. Stock hinaufstieg, hatte sie damals dem Adler am Anfang des Handlaufs der Treppe über den Kopf gestrichen, vielleicht brachte das Glück. Zwei Zimmer mit Ausblick aufs Brausebad gegenüber, Küche und Kabinett zum Hof, im Hof unten konnten die Mädchen spielen, im Stiegenhaus eine Bassena, Toilette separat. Die Wohnung war bezahlbar, eine Monatsmiete im Voraus, dann fuhr sie zurück, um für den Umzug zu packen. Das letzte Ding, das sie zu Hause auflud, war die Fußbank, die ihre Großmutter ihr für den eigenen Hausstand geschenkt hatte, als Erstes würde sie diese Fußbank ins Vorzimmer stellen und von da an in Wien zu Haus sein. Selbst als die Mutter ihr zwei oder drei Jahre später schrieb, dass bei den Manövern, die an der Grenze stattfanden, nun mit scharfer Munition geschossen werde, vielleicht gebe es Krieg, hatte sie sich noch keine Sorgen gemacht. Aus der Provinz hatten sie sich nach Wien gerettet, wie auf ein großes Schiff, und hatten nicht ahnen können, dass dieses Schiff schon damals anfing zu sinken. Feuer , Heuschrecken , Blutegel , Pest , oder Bären , Füchse , Schlangen , Wanzen und Läuse wurden die Juden hier in Wien immer wieder genannt, aber sie hatte das nicht gewusst. Lieber Gott, lieber Gott, den wir Vater heißen, wenn du uns schon Zähne gabst, gib auch was zu beißen. Vielleicht ist der Adler am Anfang des Handlaufs in Wahrheit doch eher ein Geier und wartet seit Jahren nur auf ihren Abgang, sie jedenfalls hält seit Jahren dagegen und verweigert ihm die Verwandlung ihrer Familie in Fraß, dazu aber braucht sie all ihre Kraft – die, die sie hat, und auch die, die sie schon lang nicht mehr hat. Die Haare auf ihren Beinen reißt sie nicht aus, ihre Fußnägel sind hart, die Waden blau geädert. In den Parkanlagen von Wien wächst in den Sommern das Gras kniehoch, auf freien Plätzen werden Karotten angebaut, Erdäpfel und Rüben, die Landschaft wischt über Wien hin, verwischt die Stadt, niemand schert sich darum, wenn er nur überlebt, für Korrektur und Beschneidung des Lebens ist längst nicht mehr genug Leben da. Übe, dem Knaben gleich, der Disteln köpft, an Eichen dich und Bergeshöh’n. Der Arenbergpark unterscheidet sich im Sommer kaum noch von den Auen um Brody kurz vor der russischen Grenze, nur ist sie inzwischen erwachsen und hat andres zu tun, als sich eine Haselgerte zu brechen und das Gras niederzuschlagen, wenn sie querfeldein geht, wie sie es damals getan hat, um den Rand der Palatschinke nicht zu übersehen. Nach Wien haben sie sich doch nicht gerettet, um da zu verhungern. Aber wann sich herausstellt, dass ein Wunsch nicht erfüllt wird, kann niemand vorhersehen.
Ich schreib mir noch ein paar Sachen heraus, sagt er zu seiner Frau.
Ist schon recht, antwortet die und geht aus der Küche.
An dreißig Tagen wurde, wie aus der nachstehenden Chronik hervorgeht, steirischer Boden erschüttert. Zumeist und in großer Ausdehnung geschah dies an jenen Tagen, an welchen vom Laibacher Schüttergebiete ausgehende Beben sich auch bei uns fühlbar machten.
Die Kleine, die von den Eltern immer noch so genannt wird, obgleich sie inzwischen schon dreizehn Jahre alt und einen Meter siebzig groß ist, macht sich im Vorzimmer fertig zum nächtlichen Anstehen, eine Decke klemmt sie unter den Arm, den Klappstuhl schnallt ihr die Mutter auf den Rücken. Lange Loksch. Als sie fort ist, geht die Mutter zu Bett, um einige Stunden zu schlafen, bevor sie die Tochter um Mitternacht beim Anstehen ablöst. Mit etwas Glück werden sie, wenn sie die ganze Nacht über gewartet haben, um 7 Uhr früh Kuheuter bekommen. Kocht man Kuheuter in Milch, sind sie essbar.
Das Bett der Großen ist leer.
3
E ine Hure war sie wahrhaftig nicht. Für 2 Paar Schuhe hätte sie sich schon vorletztes Jahr verkaufen können,
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