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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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wirklichen Freund finde man, wie er festgestellt habe, im späteren Leben kaum. Der Vater hätte genickt, hätte erzählt, dass auch er innerhalb dieser acht Jahre einsam geblieben sei, abgesehen natürlich von der Verbindung mit seiner Frau, dabei hätte er den Arm seiner Frau fester gepackt, ohne allerdings zu erwähnen, welchen Glaubens sie war. Der Studienfreund hätte die Frau nun genauer betrachtet, und dann gesagt, ein Familienglück sei ihm leider noch nicht beschieden, tja, wenigstens Glück im Spiel habe er, Glück im Amt meine er damit natürlich, tja, alles könne man nun einmal nicht haben, und dann noch einmal, tja, ohne dass irgendeine Bemerkung gefolgt wäre. Der Vater hätte darauf nicht recht gewusst, was zu erwidern, der Kollege aber hätte jetzt mitgeteilt, dass in der Anstalt für Meteorologie seit kurzem jemand gesucht werde, der Schreibdienste verrichte, das sei wahrscheinlich keine bessere Stelle, als die, die sein Freund derzeit habe, auch nur elfter Klasse, aber mit Zulage immerhin, und zumindest in Wien, in Wien!, er könne durchaus versuchen, sich für den Freund zu verwenden, natürlich nur, falls dieser wirklich nach Wien, nach Wien!, billig sei die Stadt jedoch nicht, zumal für eine Familie, Sparmeister sein, so so, Wien!, dann also schauen, mei, da wär ich dir aber, lass nur, wenn du das, ich wüsste gar nicht, wie ich usw. Die kleinere Tochter wäre die ganze Zeit schon ungeduldig gewesen und hätte den Vater jetzt heftiger an der Hand gezogen und ihn gebeten, sie endlich auf die Schultern zu heben. Er hätte sie auf die Schultern gehoben, und dann seinem wiedergefundenen Freund noch mehrmals herzlich gedankt, dieser hätte den Dank nicht annehmen wollen, er wisse ja gar nicht, ob wirklich, er werde sich aber bemühen, und möglicherweise. Gleich darauf wäre der Kaiser erschienen und hinter dem Himmel einhergeschritten wie ein einfacher Sünder, und die Familie aus der Provinz hätte ihm zugejubelt wie alle andern, und schon jetzt hätte sie dabei niemand von echten Wienern unterscheiden können. Der Vater hätte gleich bei der Rückkehr ins Pensionszimmer eine förmliche Bewerbung aufgesetzt und diese noch am selben Abend in den Postkasten geworfen.
    Seine Kollegen in Brody aber, allen voran sein Vorgesetzter, der Oberinspektor erster Klasse in der achten Rangordnung, Vinzenz Knorr, hätten einige Wochen später nicht schlecht gestaunt, als sie von seiner Versetzung erfuhren. Die Großmutter hätte die Familie bei der zweiten, nun endgültigen Abfahrt nach Wien zum Zug gebracht, und wäre sich beim Winken darüber im Klaren gewesen, dass mit der Tochter immerhin auch die Fragen der Tochter nach dem verschwundenen Vater davonfuhren, und dass es wahrscheinlich besser so war.

BUCH II

1
    I m Januar 1919 zeigen die goldenen Knöpfe am Mantel des Vaters noch immer den doppelköpfigen Adler und die Krone des Kaisers, dabei ist der Kaiser seit zwei Jahren tot, und die ungarische Hälfte des Adlers in Wahrheit längst auf und davon geflogen. Aber der Mantel wärmt immer noch, deshalb sitzt der Vater Tag für Tag kaiser- und königlich angetan in seinem spärlich beheizten, inzwischen demokratischen Büro im Meteorologischen Institut zu Wien, nach dem Dienst geht er von dort ins spärlich beheizte Kaffeehaus Vindobona auf zwei Partien Schach mit seinem Freund und Kollegen, sitzt dort gleichfalls bemäntelt, und auch zu Hause am Abend legt er den Mantel nicht ab, denn das Holz, das die Mutter ein paarmal in der Woche zusammen mit der Großen aus dem Wienerwald holt, ist feucht und zischt im Küchenherd mehr, als es brennt. Die Öfen im Salon, im Kabinett und im Zimmer der beiden Mädchen bleiben seit langem kalt. Der Vater setzt sich in seinem Mantel mit den goldenen Knöpfen zu Tisch, es gibt Erdäpfel gekocht, je einen für Vater, Mutter und Kleine.
    Wo ist die Große?
    Nicht da.
    Weißt du noch, als du so alt warst wie sie jetzt, hat es mit uns begonnen.
    Ist schon recht.
    2
    D u siehst aus wie eine Hure, hatte die Mutter im letzten Sommer zu ihrer großen Tochter gesagt, als die ihren Rock bis übers Knie gekürzt hatte und so ausgehen wollte.
    Was weißt du denn von Huren?, hatte die Tochter geschrien und im Abgehen die Tür so zugeschlagen, dass das Glas klirrte, das in der oberen Hälfte eingesetzt war.
    Als die Tochter fort war, hatte die Mutter eine halbe Stunde lang geweint, dann aber ihren eigenen Rock bis über die Knie gerafft und im Spiegel ihre Beine betrachtet. Wien war

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