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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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neulich auch für 1 Liter Sahne, 15 Erdäpfel oder 1 halbes Pfund Fett. Immer wieder raunte ihr mal der, mal der Schwarzhändler ihren Preis zu, der sich, wie alle Preise, je nach Kurs, in Bewegung befand, grundsätzlich allerdings in Bewegung nach unten. Längst hätte sie sich verkaufen können, damit ihre Familie zu Haus nicht mehr fror, oder für ihre Schwester, die schneller wuchs, als sie sollte. Vielleicht nahm die Mutter ihr, im Grunde genommen, genau das Gegenteil von dem, was sie ihr vorwarf, übel, nämlich dass sie noch immer versuchte, jung zu sein, ohne sich zu verkaufen. In einer der Nächte des letzten Sommers hatte sie sich am Donauufer zum ersten Mal die Bluse aufknöpfen lassen, ein jüngerer Mitschüler hatte seine Hand unter den Stoff gesteckt und nach ihren Brüsten gegriffen, aber mehr hatte sie nicht zugelassen, er war ja noch ein Kind. In einer der Nächte des letzten Sommers hatte der Freund des Vaters sich einmal heimlich mit ihr getroffen und ihr gesagt, dass er ihr rotes Haar aufregender finde als irgend etwas, das er jemals in seinem Leben gesehen habe, er hatte dann erst ihr Haar und anschließend ihre Schulter geküsst, aber mehr hatte sie nicht zugelassen, er war ja zu alt. An der Marne oder am Isonzo fiel vielleicht gerade der, der ihr bestimmt gewesen wäre, verblutete am Stacheldrahtzaun vor Verdun oder verlor seine Beine. In diesem Krieg zerschoss man auch ihr, die in der Etappe jung war, die Jugend. Ihre beste Freundin hatte sich mit einem Studenten verlobt, bevor der in den Krieg ziehen musste, zwei Jahre lang hatte der Schlachten geschlagen und lag nun mit einer Gasvergiftung in einem Feldlazarett. Krieg führen müsste man gegen den Krieg, aber wie das gehen sollte, wusste weder sie, noch wusste es ihre Freundin. In den Warteschlangen hatte sie Mütter gesehen, die ihre hungernden Kinder den Wachhabenden unter die Augen hielten und damit drohten, sie am Fensterkreuz aufzuhängen und sich dazu, oder gleich die ganze Familie in der Donau zu ertränken, eine hatte ihren Säugling sogar auf die Straße gelegt und sich geweigert, ihn wieder an sich zu nehmen, weil sie nicht wusste, wie ihn weiter ernähren. Einmal, als sie nach stundenlangem Warten leer ausgehen sollte, hatte sie solche Wut empfunden, dass sie die anderen Frauen dazu aufrief, vor das Rathaus zu ziehen, um sich zu beschweren, sie hatte ihr Taschentuch wie eine Fahne in der Luft geschwenkt, und tatsächlich waren ihr, dem damals erst vierzehnjährigen Mädchen, Hunderte verzweifelte Frauen gefolgt. Nachdem aber mehrere Stunden lang aus dem Rathaus niemand herauskam, um zu verhandeln, hatten die Frauen, die sich für diesen Tag ja dennoch um Essen für ihre Familien kümmern mussten, sich wieder zerstreut und verzogen. Sie aber hatte sich niedergesetzt und geweint, und das Taschentuch, das eben noch ihre Fahne gewesen war, nun dazu verwendet, sich zu schneuzen und ihre Tränen zu trocknen. Ihrer Mutter hatte sie nicht von dieser Niederlage erzählt, hatte aber nach diesem Tag beschlossen, sich unabhängig zu machen vom Hunger, sich nicht länger vom eigenen Körper zum Scheitern erpressen zu lassen, je weniger sie aß, das hatte sie schon gemerkt, desto klarer wurde ihr Denken. Ihre Wahrnehmung war schließlich so geschärft, dass sie in den Nächten des letzten Sommers, wenn sie mit ihrer besten Freundin am Ufer der Donau lag und so tat, als ob sie jung wäre, nicht nur die Strömung des Flusses hörte, sondern sogar das Gleiten der Fische und Schlangen unter der Wasseroberfläche, hellsichtig vor Hunger wusste sie, wie die Viecher sich in der Tiefe umeinander wanden und schnappten und fauchten.
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    W äre er nicht der einzige Mensch auf der Welt, der ahnte, wie alles mit allem zusammenhing, würde er am liebsten sterben, als immer weiter zu frieren und zuzusehen, wie seine Familie fror, zu hungern und zuzusehen, wie seine Familie hungerte. Es ist eine bemerkenswerte Erscheinung der Erdbebenperiode, welche mit dem Laibacher Osterbeben des Jahres 1895 begann, dass unter den lange andauernden Nachbeben manche recht heftige Wirkungen erzielten, die zerstörend auftraten und ganz ähnliche Erscheinungen zeigten wie die Haupterschütterung selbst. Das Beben vom 5. April 1897 war zwar kein besonders starkes, es zeichnete sich dieses Beben aber dadurch aus, dass die Bodenbewegung dem Schallphänomen gegenüber zurücktrat. Auf jeden Fall musste er noch bis über den Ersten des nächsten Monats hinaus lebendig sein, denn

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