Allerliebste Schwester
auch der Flügel nichts, im Gegenteil, er machte ihr ihre große Schuld nur noch bewusster. Und so traf Eva sich mit ihrer Schwester lieber in Cafés und Restaurants. »Da können wir besser unter uns Mädels reden«, pflegte Eva zu sagen, die immer erleichtert war, wenn sie das große Stadthaus nicht betreten musste. Das gediegene Ambiente, die kostspielige Einrichtung, sehr geschmackvoll aufeinander abgestimmt, jedes Accessoire am richtigen Platz. Alles so perfekt - und tot. Genau wie der Flügel, der nun als glänzendes Schmuckstück in der Mitte des Wohnzimmers thronte und dem niemand Leben einhauchen würde. Wie ein Spielplatz ohne Kinder. Natürlich hätte sie sich gern öfter daran gesetzt, der Klang des Steinways war mit dem des altersschwachen Instruments, das in ihrer Wohnung stand, nicht zu vergleichen. Aber sie wäre sich noch mehr wie eine Verräterin vorgekommen, hätte sie ihre Hände auf die Tasten des Flügels gelegt.
»Nur ein einziges Mal noch«, bettelte Tobias stets, wenn Eva einen weiteren Versuch unternahm, die Affäre mit ihm zu beenden. »Bitte, ich brauche dich.«
»Du hast meine Schwester.«
»Ja, und ich liebe Marlene. Aber du bist so anders, ich sehne mich einfach nach etwas Leidenschaft. Bitte!«
»Es muss endlich Schluss sein. Ich kann das Marlene nicht länger antun.«
»Aber du nimmst ihr nichts weg, glaub mir!« Schon war er dabei, sie zu küssen und an ihren Kleidern zu zerren. »Sie hat schon länger keinen Spaß mehr … daran. Wir tun es nur noch, wenn sie schwanger werden kann, eine reine Pflichtübung rund um den Eisprung ist es mittlerweile geworden.«
Vielleicht hätte sie Marlene fragen sollen. Ob das die Wahrheit war, ob sie ihr vielleicht sogar einen Gefallen tat, wenn ihr Mann sich bei ihr das holen konnte, was sie ihm nur noch gab, wenn es der richtige Zeitpunkt war und seinen Zweck erfüllen konnte. Aber sie hatte sie nie gefragt. Zu groß war die Angst, sich zu verraten, zu groß die Angst, dass Marlene merken könnte, was hinter ihrem Rücken geschah. Seinem Zwilling kann man nichts vormachen.
Und Marlene wirkte doch glücklich. Warum hätte Eva dieses Glück zerstören sollen? Das durfte sie nicht. Noch wenige Tage vor Marlenes Tod schrieb sie Tobias eine Mail, in der sie ihm entschlossen mitteilte, dass es ein für allemal vorbei sein musste mit ihnen, dass er sie nicht mehr besuchen kommen sollte. Zwecklos. Einen Tag später stand er erneut vor ihrer Tür. Und Eva? Schaffte es nicht, ihren Vorsätzen treu zu bleiben.
Nun lässt Eva ihre Finger also über die Tasten gleiten, versucht, sich an längst vergessene Tonfolgen zu erinnern. Eine Nocturne von Chopin ist in ihrem Kopf, aber ihre steifen Hände bringen das Stück nicht mehr
zusammen. Noch dazu ist das Instrument verstimmt, auch der Steinway hat jahrelang geschwiegen.
»Du spielst?« Tobias erscheint in der Tür zum Wohnzimmer und wirft ihr einen erstaunten Blick zu.
»Na ja«, sie lächelt ihn verlegen an. »Ich versuche es.«
»Das ist schön.« Der Zorn ist aus seinem Gesicht gewichen, und er erwidert ihr Lächeln.
»Vor allem schön schief«, stellt sie fest. »Der Flügel ist verstimmt.«
»Dann müssen wir wohl einen Klavierstimmer rufen.« Er holt sich einen der Stühle vom Esszimmertisch und setzt sich direkt neben sie. Eva nimmt die Hände von den Tasten. »Nein, bitte«, sagt Tobias. »Ich finde es wirklich schön, wenn du spielst. Bitte mach weiter!« Sie überlegt einen Moment, dann setzt sie wieder an. Die Ballade pour Adeline von Richard Clayderman. Ein schrecklich banales Stück, Kaffeehausmusik für Großmütter. Aber das Einzige, was sie auch noch nach Jahren aus dem Gedächtnis und trotz eingerosteter Finger einigermaßen hinbekommt.
Tobias lauscht ergriffen, als spiele sie gerade ein Klavierkonzert von Rachmaninoff. Ja, sie werden den Flügel richten lassen. Die Saiten wieder in wohltemperierte Stimmung bringen. Wie Evas Saiten, die seit dem Nachmittag innerlich vibrieren. Während sie spielt und die Augen schließt, erscheint wieder das Bild von Simon. Wie er vor ihr stand, ihr Gesicht in seinen Händen, wie sie dachte, er würde sie gleich küssen wollen. Die blassblauen Augen hinter den Brillengläsern, der Geruch seines Aftershaves, den sie noch immer in der
Nase hat. Sie spielt weiter und spürt, wie die Wärme in ihre Hände zurückströmt.
Im nächsten Moment ist alles vorbei.
»Wo ist dein Ehering?« Tobias reißt ihre rechte Hand von den Tasten und hält sie fest,
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