Allerliebste Schwester
»Eva!« Eine Sekunde später ist er bei ihr und packt sie bei den Schultern. »Wo hast du gesteckt? Warum ist dein Handy aus? Ich habe mir Sorgen gemacht!«
»Warum sagt man, dass jemand vor die Hunde geht?«
Er starrt sie an. »Hörst du mir überhaupt zu? Ich will wissen, wo du gewesen bist!«
»Und ich frage mich, woher dieses Sprichwort stammt.« Sie lächelt ihn an. »Vielleicht aus der Jägersprache? Das könnte doch sein, oder?« Tobias schüttelt den Kopf, sein Gesicht verzieht sich, eine Mischung aus Wut und Verzweiflung. Dann fängt er an, sie zu küssen, mehr grob und fest als zärtlich.
»Warum erreiche ich dich nicht mehr?«, will er zwischen seinen Küssen wissen. »Du entgleitest mir total, wo gehst du nur hin?«
»Ich gehe nirgends hin«, erwidert sie verwundert. »Wo sollte ich denn auch hin?«
»Merkst du das denn nicht?« Er drückt sie fest an sich, streichelt ihr übers Haar. »Merkst du nicht, dass du mir Angst machst?«
»Womit sollte ich dir Angst machen?« Ihr Erstaunen ist echt, sie kann sich wirklich nicht denken, wovor Tobias sich fürchtet.
»Weil du … In einem Moment denke ich, es ist wieder alles in Ordnung. Und dann verschwindest du plötzlich stundenlang oder machst«, er greift nach ihrem Handgelenk, dreht es herum und schiebt den Pulswärmer nach oben, so dass man das schwarze Kreuz darunter sehen kann, »seltsame Dinge.«
»Ich finde das nicht seltsam.« Sie entzieht ihm ihre Hand. »Du verstehst es nur nicht, das ist alles.« Er seufzt, dann holt er tief Luft und schiebt sie ein Stückchen
von sich weg. »Also, wo bist du gewesen?«, wiederholt er seine erste Frage noch einmal.
»Im Geschäft natürlich, wo sonst?« Tobias schüttelt den Kopf.
»Das stimmt nicht, ich war vorhin im Laden.«
»Hat Gabriele dir denn nicht gesagt, dass ich kurz weg bin, um Büromaterial zu besorgen?«
»Doch.« Er legt den Kopf schief und mustert sie eindringlich. »Und wo hast du es gekauft?« Sie denkt nach, blitzschnell. Sie befürchtet, dass das eine Falle ist, in die sie nicht tappen darf. Nur eine Straße vom Buchladen entfernt ist ein Schreibwarengeschäft. Da gehen sie normalerweise hin. Aber Eva ist klar, dass Tobias auch dort nach ihr gefragt haben wird. Außerdem hat er mit Sicherheit gesehen, dass ihr Auto weg war, das muss sie irgendwie erklären.
»Ich bin in die Stadt gefahren. Wollte noch nach ein paar Schuhen gucken.«
»Was für Schuhe?« Eva stößt einen unwilligen Laut aus.
»Schuhe halt.«
»Und wo sind sie?«
»Ich habe keine gekauft.«
»Und das Büromaterial?«
»Habe ich auf dem Heimweg noch bei Gabriele vorbeigebracht.« Sie merkt, dass sie anfängt zu schwitzen. Mit einem so gründlichen Verhör hat sie nicht gerechnet, in letzter Zeit schien Tobias doch recht zufrieden zu sein. Aber gleichzeitig macht es ihr auch Spaß. Sie freut sich über die alte Eva, die noch nie um eine Ausrede
verlegen war und die für sie gerade geschickt die Fäden zieht.
Endlich gibt Tobias Ruhe und holt seine Jacke von der Garderobe. »Gut. Ich werde noch ein paar Sachen fürs Abendessen einkaufen«, erklärt er und geht zur Wohnungstür. Dann bleibt er noch einmal stehen. »Eva?«
»Ja?«
»Ich hoffe, dass du mich nicht anlügst.«
»Dafür gibt es keinen Grund.«
»Wirklich nicht?« Auf seinem Gesicht zeichnet sich wieder diese Mischung aus Wut und Verzweiflung ab.
»Nein.«
Als Tobias eine halbe Stunde später zurückkehrt, sitzt Eva im Wohnzimmer am Flügel und spielt. Ein echter Steinway, sie erinnert sich noch gut daran, wann Marlene und Tobias ihn gekauft haben. Das war nur wenige Monate vor Marlenes Tod, kurz vor Weihnachten stand er auf einmal da.
»Aber keiner von euch beiden spielt Klavier!«, rief Eva erstaunt, als sie das teure Instrument im Haus ihrer Schwester und ihres Schwagers das erste Mal sah.
»Macht doch nichts«, erwiderte Tobias. »Es sieht doch schick aus und passt ausgezeichnet ins Wohnzimmer.« Er warf ihr einen Blick zu, bei dem ihr beinahe übel wurde. »Außerdem kannst du uns ja was vorspielen, wenn du zu Besuch bist.« Da begriff sie es: Tobias hatte den Flügel einzig und allein für sie gekauft. Zu jenem Zeitpunkt war ihre Affäre erst ein paar Wochen
alt, und schon machte Tobias ihr vor den Augen ihrer Schwester dieses große Geschenk. Damit sie darauf spielen könnte, wenn sie »zu Besuch« war.
Gelegenheit dazu hatte Eva genau ein einziges Mal. Denn sie war nicht sonderlich oft zu Besuch in der Brahmsallee. Daran änderte
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