Allerliebste Schwester
Bekannten, die sich auf der Straße begegnen und sich im Stakkato kurz auf den neuesten Stand der Dinge bringen. Eva erinnert sich daran, wie sie manchmal zu ihren exzentrischen Freunden aus der Künstlerszene meinte: »Meine Schwester ist süß, aber irgendwie so furchtbar gesettled, ein bisschen langweilig und spießig. Nicht auf meinem Planeten zu Hause.« Nun schämt sie sich dafür, dass sie so etwas gesagt hat. Dass sie es überhaupt denken konnte.
»Und jetzt erzähl mir«, fordert Eva, »von Simon.«
»Von Simon?«
»Ja«, nickt Eva. »Von Simon.«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, erwidert Marlene, rutscht auf dem Tisch ein Stück zur Seite und lässt die Füße wieder baumeln. »Er war eine Zeitlang bei uns Stammkunde, mit dem ich hin und wieder mal einen Kaffee trinken war.«
»Nur einen Kaffee?«
»Hey!« Marlene hebt gespielt drohend den Zeigefinger. »Du weißt doch: Ich war die brave Ehefrau, du der wilde Feger. Mehr als Kaffee und Gespräche über Bücher war da wirklich nicht.« So, wie sie es sagt, klingt es ehrlich. Und Eva spürt, wie sie fast ein bisschen enttäuscht ist. Weil sie gehofft hat, dass Marlene
vielleicht … noch ein anderes Leben hatte als das, was Eva nun für sie führt.
»Spielst du was für mich und singst?«, will Marlene wissen.
»Lieber nicht, der Flügel ist ziemlich verstimmt, und ich selbst bin auch nicht viel besser in Form.«
»Ist doch egal, ich möchte so gern etwas von dir hören.«
»Was denn?« Marlene überlegt einen Moment.
»Dieses eine Lied.«
»Tolle Umschreibung«, sagt Eva lachend. »Welches eine Lied?«
»Na, du weißt schon.«
»Ich habe keine Ahnung.« Marlene springt vom Tisch hinunter, geht rüber zu ihrer Schwester und legt ihre rechte Hand auf Evas.
»Du kannst doch gar nicht spielen.« Marlene schüttelt schmunzelnd den Kopf.
»Ich bin tot. Ich kann alles.« Und dann fängt sie an, Evas Hand zu führen. B - Es - F - D; Es - As - As - As - G. Eva erstarrt.
»Das hast du gehört?«, flüstert sie.
»Natürlich. Ich bin ja immer bei dir gewesen. In Wahrheit war ich doch niemals fort, nicht eine Sekunde lang habe ich dich verlassen.«
Eva beginnt zu spielen. Nach kurzem Räuspern setzt sie an und singt: Bist du bei mir, geh ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh.
Dreißig Sekunden später fliegt die Tür zum Wohnzimmer auf.
»Hör auf!«, schreit Tobias Eva an. »Hör, verdammt noch mal auf damit!« Sie beachtet ihn nicht weiter. Sie schlägt die Tasten noch härter, noch lauter an, verlangt ihrer Stimme das Letzte ab und singt allein für Marlene. Ach, wie vergnügt wär so mein Ende, es drückten deine schönen Hände mir die getreuen Augen zu.
10
Später in der Nacht: Eva liegt noch wach, während Tobias neben ihr tief und fest schläft. Sie haben sich dann doch wieder vertragen. Eva hat sich bei ihm entschuldigt. Dass sie das Lied von Marlenes Beerdigung gesungen habe, sei pietätlos gewesen. Sie ist den Weg des geringsten Widerstands gegangen, weil sie diesen wunderbaren Tag an der Alster nicht durch einen Ehestreit kaputtmachen wollte.
Gleich Montag wird der Klavierstimmer bestellt. Eva hat Tobias erklärt, dass sie wirklich gern wieder spielen, singen und vielleicht sogar wieder Lieder schreiben würde. »Es wäre schön, wenn dich das etwas glücklicher macht«, hat Tobias gesagt. »Ich habe sowieso nie verstanden, weshalb du es ganz aufgegeben hast.« Sie hat darauf nichts erwidert. Ganz oder gar nicht. Seine eigenen Worte. Aber er hat offenbar nicht die geringste Ahnung, was sie wirklich bedeuten.
Nun liegt sie wach neben ihm und schickt ihre Gedanken auf Reisen. Erinnert sich an die vielen Nächte, in denen sie hier auch schon so lag, schlaflos, unfähig, sich in ihre Träume zu flüchten. Aber da war es anders
als jetzt. Damals hatte sie den Schlaf herbeigesehnt, ein paar gnädige Stunden der Bewusstlosigkeit, in denen sie nicht an ihre Schwester und an ihr eigenes verrottendes Herz denken musste. Sie kam sich vor wie die Hauptfigur eines Buches, das Marlene ihr einmal aus dem Laden mitgebracht hatte. Schmetterling und Taucherglocke , die Biografie eines Mannes, der am »Locked-in-Syndrom« erkrankt war.
Gefangen im eigenen Körper, nur noch fähig, mit einem Auge zu blinzeln und so zu kommunizieren, Morse-Zeichen an die Außenwelt. Gleichzeitig bei vollem Bewusstsein, dazu verurteilt, alles wahrzunehmen, was um ihn herum geschieht - und doch nicht den kleinsten Finger rühren zu können. Locked-in -
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