Allerliebste Schwester
vor Überraschung schnappt Eva nach Luft. Sie starrt erschrocken in sein wieder wütendes Gesicht.
»Was?« Sie versucht, ihre Gedanken zu sortieren, denn mit einem Mal fliegen sie wild durcheinander.
»Du trägst deinen Ehering nicht!«, fährt Tobias sie erneut an, als hätte sie absichtlich mit ihrem Schlüssel die Motorhaube seines BMWs zerkratzt. Mit aller Kraft zieht sie ihre Hand zurück, blickt selbst ganz erstaunt auf ihren nackten Ringfinger. Den hat sie vergessen. Es war doch alles so sorgsam geplant, und ausgerechnet ihren Ring vergisst sie. Er steckt noch immer in ihrem Portemonnaie, ein eindeutiges Corpus Delicti. Schnell sucht sie nach einer Erklärung für diese unglaubliche Untat, den Ring heute abgelegt zu haben.
»Eva? Könntest du bitte etwas sagen?«
»Du hast ihn zum Juwelier gebracht.« Evas Kopf schnellt herum, dreht sich in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Marlene sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Esstisch und beobachtet die Szene amüsiert. »Er soll ihn enger machen, weil du doch so dünn geworden bist und den Ring ständig verlierst.« Eva spürt, wie sich ein entspanntes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitet. Langsam wendet sie sich wieder Tobias zu und wiederholt, was ihre Schwester ihr gesagt hat.
»Und warum grinst du jetzt so blöd?« Seine dunklen Augen sind mittlerweile nur noch zwei schwarze, vorwurfsvolle Löcher.
»Weil ich es etwas lächerlich finde, dass du um so eine Lappalie einen derartigen Aufstand machst.« Verstohlen blickt sie zu ihrer Schwester hinüber, die noch immer auf dem Tisch sitzt. Und ebenfalls blöd grinst.
»Eine Lappalie, so?«
»Ja«, wiederholt Eva, »eine Lappalie.«
»Da würde ich dir normalerweise sogar zustimmen«, erwidert ihr Mann, »aber durch dein seltsames Verhalten in den letzten Wochen kann ich leider nie wissen, wann die nächste Bombe hochgeht. Du wirst also verzeihen«, fährt er fort, »wenn ich ein wenig … wachsam bin.« Tobias steht ruckartig auf und stellt den Stuhl zurück. Direkt vor seine verstorbene Frau, die kichernd die baumelnden Füße hochzieht, damit sie nicht im Weg sind. »Aber gut, wenn du meinst, es bestünde kein Grund dazu, ist es ja in Ordnung. Ich gehe jetzt in die Küche und mache mir eine Portion Ragout fin heiß. Willst du auch eine?«, fragt er, als er schon halb aus der Tür ist. »Sehr gerne«, ruft sie ihm flötend hinterher. »Wenn ich noch dünner werde, muss ich den Ring bald wieder ändern lassen.« Sie hört ihn mit der Küchentür knallen, so laut, dass die Fensterscheiben klirren.
Marlene lacht. »Hui, da ist aber einer sauer.«
»Stimmt. Es passt ihm wohl nicht, dass ich Widerworte gebe.«
»Früher hat er deine Schlagfertigkeit immer bewundert.«
»Da war ich auch noch nicht seine Frau. Außerdem bin gerade gar nicht ich schlagfertig gewesen - das warst du.«
Marlene zwinkert ihr zu. »Das weiß er aber nicht. Und als ich noch gelebt habe, ist mir nie so schnell etwas eingefallen.«
Bei diesen Worten zuckt Eva zusammen. Als ich noch gelebt habe. Für einen kurzen Moment hat sie glatt vergessen, dass Marlene unmöglich auf dem Esstisch sitzen und mit ihr sprechen kann. Aber es fühlt sich so echt an. Als wäre sie wirklich da, als würden sie so miteinander reden, wie sie es früher getan haben. Nein, nicht wie sie es früher getan haben, sondern wie sie es früher hätten tun müssen.
Mit der Zeit wurden die vertrauten Gespräche, die sie als Kinder und Jugendliche geführt hatten, immer oberflächlicher. Erst recht, nachdem Marlene Tobias geheiratet hatte: Diese Ehe trieb einen unsichtbaren Keil zwischen sie. Eva sprach fast nur noch von ihrer Arbeit und ihrer Musikkarriere, Marlene erzählte davon, wie sie was im Haus umgestalten wollte und welchen Urlaub sie plante, von ihrem und Tobias’ großen Kinderwunsch und der Hoffnung, dass es bald klappen würde. Immerhin hatte sie sich deswegen nach dem dritten Staatsexamen dagegen entschieden, mit der praktischen Ausbildung zu beginnen, und stattdessen den Job im Buchladen angenommen. Die Arbeit in der Klinik wäre aufreibend und stressig geworden, nicht das Richtige, wenn man Mitte zwanzig und der Meinung
war, jetzt sei genau der passenden Zeitpunkt für ein Baby. Gelangweilt hörte Eva zu, die reißbrettartigen Lebenspläne ihrer Schwester interessierten sie nicht sonderlich. Da war nicht mehr viel von Ylva-Li und Barbro, die sich alles anvertrauten, ihre Gespräche klangen eher wie die von flüchtigen
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