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Allerliebste Schwester

Titel: Allerliebste Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
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eben schwer zu begreifen. Fast unmöglich, so unwirklich kommt es mir oft vor. Wie ein schlechter Traum, aus dem man irgendwann schweißgebadet aufwacht. Aber so sehr ich es mir auch wünsche, ich wache einfach nicht auf.«
    »Es soll Selbstmord gewesen sein, oder?«
    Eva nickt. »Zu diesem Schluss ist jedenfalls die Polizei gelangt, obwohl es nicht bewiesen werden konnte.«
    »Und«, fragt er zögernd weiter, »weiß man, warum sie es getan hat?«

    »Nein«, erklärt sie, »das weiß man nicht.«
    »Wieso geht die Polizei dann davon aus?«
    »Keine Ahnung.« Eva seufzt. »Vielleicht wollten sie nur schnell die Akte schließen.«
    »Glaubst du das auch? Dass sie sich umgebracht hat, meine ich.«
    »Ich«, setzt sie an, unterbricht sich aber, weil sie nicht weiß, was sie sagen soll. Sie will nicht von dem Anruf erzählen, den sie verpasst hat, will am liebsten gar nicht darüber sprechen, sondern einfach nur mit Simon diesen Spaziergang machen und nicht mehr in der Vergangenheit wühlen. Sie seufzt.
    »Du magst nicht darüber reden, oder?«, fragt Simon, und sie ist überrascht, dass er ihre Abwehrhaltung so deutlich spürt.
    »Nein«, antwortet sie, »ich denke, das will ich nicht.« Und außerdem, fügt sie in Gedanken hinzu, glaube ich nicht, dass meine Schwester dich nur bei der Lektüreauswahl beraten hat. Ich kann es sehen, dass da mehr gewesen sein muss. Warum sonst sollte er wieder in die Buchhandlung gekommen sein, wenn er doch wusste, dass er Marlene dort ohnehin nicht finden würde. Aus welchem Grund, außer aus dem Verlangen heraus, einer Erinnerung nachzuspüren. So, wie dieses Verlangen Eva vor einiger Zeit zur U-Bahn-Station geführt hat. Aber sie fragt Simon nicht danach, respektiert, dass das offenbar etwas ist, worüber er nicht reden möchte.
    »Es heißt ja«, Simon bleibt stehen, dreht sich zu ihr um und betrachtet nachdenklich ihr Gesicht, »dass Zwillinge eine ganz besondere Verbindung miteinander
haben. Wenn dem einen etwas passiert, spürt es der andere auch.« Keine Frage, eine Feststellung. Eva wünscht, sie könnte ihm jetzt recht geben, aber das kann sie nicht. Bis zu dem Moment, als Tobias vor ihrer Tür stand und ihr von Marlenes Tod berichtete, hatte sie keine Ahnung, dass ihre Schwester, ihr anderes Ich, nicht mehr da war. Die unsichtbare Verbindung, die sie als Kinder miteinander hatten, zu diesem Zeitpunkt war sie längst durchtrennt gewesen. Neben Tobias ist dieser Mann, mit dem Eva gerade an der Alster steht, die einzige Verbindung, die es zwischen ihr und Marlene noch gibt.
    Wortlos nimmt Eva Simons Hand, legt sie an ihre Wange. Kurz wirkt er überrascht, lässt aber die Hand dort verweilen. Ihr ist, als könne sie ganz schwach seinen Herzschlag spüren, wie er durch seine feingliedrige Hand pulsiert. Diese warme Architektenhand.
    »Du hast dieselben unglaublichen Augen wie s ie«, sagt Simon leise.
    »Ich weiß.«
    Jetzt nimmt er ihr Gesicht in beide Hände, streicht ihr zärtlich über die Wangen, lässt dann einen Daumen über ihre linke Schläfe bis hoch zu ihrer Augenbraue wandern, dahin, wo die Narbe ist. Er beugt sich unmerklich vor, und sie denkt, dass er sie küssen wird.
    »Für ihren Mann muss das auch ein Schock gewesen sein«, sagt er plötzlich und hört auf, sie zu streicheln. Eva verkrampft, der kurze Moment von Innigkeit zwischen ihnen verfliegt so schnell, wie er gekommen ist.
Weshalb fragt er ausgerechnet in diesem Augenblick nach Marlenes Mann?
    »Hm«, murmelt Eva, »ja, das war es wohl. Für uns alle war es ein Schock.«
    »Und wie geht es«, fragt Simon weiter, »wie geht es … Wie hieß er noch?«
    »Tobias«, antwortet sie unwillig.
    »Tobias, ja, richtig. Wie ist er damit klargekommen?«
    »Schwer zu sagen«, sagt Eva. »Wir standen uns nie sonderlich nahe.« Das ist nicht einmal gelogen, denkt sie, so richtig gelogen ist das nicht. »Ich glaube, er hat es einigermaßen verwunden, wir haben kaum noch Kontakt miteinander.« Was soll sie auch sagen? Kein Problem, er ist jetzt mit mir verheiratet, wir haben uns arrangiert, haben Mittel und Wege gefunden, dieses zerbröckelnde, fragile Leben irgendwie zusammenzuhalten. Und es wäre uns auch fast gelungen, wäre unser Sohn Lukas nicht tot zur Welt gekommen.
    »Ich muss jetzt los«, sagt Simon unvermittelt. »Noch einmal ins Büro und dann noch ein paar Sachen einkaufen.«
    »Gut«, meint Eva und ist enttäuscht. Sie will nicht, dass er geht, viel lieber möchte sie, dass er ihr Gesicht noch einmal zwischen

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