Allerliebste Schwester
reißt sie sich von ihm los. »Ich komme nicht wieder mit, ich wohne ab sofort hier.«
»Und was ist mit der Schule?«, will ihre Mutter wissen, deren Stimme sich fast überschlägt. »Die Prüfungen beginnen bald!«
»Da gehe ich nicht mehr hin, die Schule ist für mich erledigt.«
»Barbro, bitte!«, schaltet sich nun wieder ihre Schwester ein. Eva wirft ihr einen Blick zu, der sie zum Schweigen bringt. Keinen bösen Blick. Nur einen, der darum bittet, dass sie sie verstehen soll.
»Mir reicht das jetzt«, sagt ihr Vater und greift wieder nach seiner Tochter. Schnell springt sie einen Schritt zurück.
»Fass mich nicht an!«, schreit sie. »Fass mich nie wieder an!« Erschrocken lässt ihr Vater die Hände sinken, wirft seiner Frau einen ratlosen Blick zu.
»Ich verstehe das nicht, Manfred«, seufzt Gerlinde. »Aber so ist sie ja schon immer gewesen«, fährt sie dann über Eva referierend fort. »Immer störrisch, launisch. Tut nur das, was sie sich gerade in den Kopf gesetzt hat und schert sich nicht um Gott und die Welt!« Wieder an Eva: »Wie kannst du nur so unvernünftig sein? Warum bist du nicht ein bisschen wie Marlene? Von Zwillingen sollte man eigentlich etwas anderes erwarten!«
»Weil ich«, in diesem Moment ist Eva ganz ruhig, »nicht Marlene bin.«
»Ja!«, stichelt ihre Mutter. »Das kann man wohl sagen! Weiß der Himmel warum!« Eva geht zur Tür und öffnet sie.
»Außerdem bin ich volljährig. Und jetzt raus aus meiner Wohnung.« Ihre Eltern schnappen hörbar nach Luft, so hat das Kind noch nie mit ihnen gesprochen. Reglos starren sie Eva an.
»Komm, Manfred«, sagt Gerlinde dann, »lass uns gehen. Es hat ja keinen Sinn, mit ihr zu reden, das ist vergebene Liebesmüh.« Liebesmüh . Eva lacht auf. Als hätte sich jemals einer von den beiden ihretwegen mit Liebe Mühe gegeben! Evas Mutter geht zur Tür, ihr Mann folgt ihr auf dem Fuße.
»Ich auch?« Marlene.
»Nein. Du kannst bleiben. Nur die beiden da - die will ich nicht mehr sehen.« Hinter ihren Eltern schließt Eva die Tür, dreht den Schlüssel zweimal um.
»Aber ich habe dich nie gehasst«, sagt Eva jetzt.
»Nein?«
»Natürlich nicht. Ich habe dich geliebt.« Das stimmt. Und auch nicht. Mit einem Mal fühlt Eva wieder den Groll in sich aufsteigen, Groll, den sie viele Jahre unterdrückt hat. Zorn darüber, verlassen worden zu sein. Von dem einzigen Menschen, der ihr je etwas bedeutet hat.
»Ich habe dich auch geliebt«, flüstert Marlene jetzt. »Bis zum letzten Moment habe ich das getan.« Eva steht auf, setzt sich zu ihrer Schwester aufs Sofa und schließt die Augen. Diese Liebe habe ich nicht verdient,
denkt sie, während ihr so ist, als würde Marlene ihr sanft übers Haar streicheln. »Und manchmal«, hört sie ihre Schwester fortfahren, »hatte ich Angst. Angst, dass ich dich verliere, dass uns das entfremdet hat und du mir nie verzeihen kannst.« Du! Mir! Nie! Verzeihen! Wie zynisch klingen diese Worte in Evas Ohren. Wenn sie wüsste, wenn Marlene wüsste, was Eva in Wahrheit getan hat.
Schon will Eva es ihr sagen, will den Moment nutzen, endlich alles auf den Tisch zu bringen. Die Geschichte ihrer kleinen dreckigen Rache, die heimliche Genugtuung, die Eva darüber empfand, dass der feine Herr Tobias eben doch nicht ganz so fein war, wie alle immer dachten, dass er nicht eine Sekunde gezögert hat, als sich ihm die erstbeste Gelegenheit bot und die zweitbeste und drittbeste gleich mit. Alles auf den Tisch, schonungslos und ungeschminkt, und dann wird die Vergangenheit entweder daruntergekehrt oder ein für alle Mal fortgewischt, nichts soll mehr zwischen ihr und Marlene stehen. Nichts, auch nicht Tobias, denn ja, er hat sie entzweit, er hat sie sich verlieren lassen, er - und kein anderer ist Schuld.
»Tobias«, sagt Eva, setzt sich auf und blickt Marlene direkt ins Gesicht. »Den habe ich gehasst.«
»Er hat dir damals nichts getan«, stellt Marlene überrascht fest.
»Doch«, widerspricht sie. »Er hat aus meiner wunderbaren, schlauen Ylva-Li ein Hausmütterchen gemacht«, stößt sie zornig hervor. »Buchhändlerin statt Ärztin, ja, das hat er gerade noch erlaubt.«
»Wir wollten doch Kinder«, erklärt Marlene. »Deshalb habe ich nach dem Studium nicht weitergemacht. Du weißt, dass ich immer Kinder, immer eine Familie wollte. Mit einem Vollzeitjob als Ärztin wäre das viel zu stressig gewesen.«
»Hat Tobias bestimmt.« Marlene schüttelt den Kopf. »Ob du es glaubst oder nicht, es war meine eigene
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