Alles auf Anfang Marie - Roman
meine Frau mitkommt und mich dabei unterstützt?«
War das ein faires Argument? Ich fühlte, dass mir langsam die Tränen in die Augen stiegen, und das mag ich gar nicht. Henning mag es auch nicht, er findet, das ist emotionale Erpressung, aber ich kann doch nichts dafür, wenn ich weinen muss. »Wie stellst du dir das denn praktisch vor mit der Unterstützung? Du bist zehn Stunden täglich bei der Arbeit und ich warte auf dich wie eine Geisha, bis du kommst und ich dir die Füße massieren kann?«
»Also wirklich, Marie!« Henning schob ruckartig seinen Stuhl nach hinten und stand auf. »So was Unsachliches habe ich schon lange nicht mehr von dir gehört. Ist das jetzt der Stil, in dem du mit mir redest?«
»Unsachlich?«, wiederholte ich. »Denk doch mal nach, Henning! Was soll ich denn den ganzen Tag tun? Ich verstehe die Sprache nicht. Ich kann keine Schilder lesen, ich kann mich nicht verständlich machen, kann keinen Job annehmen, habe keine Kontakte. Du kriegst vermutlich einen Dolmetscher an die Seite, der alles für dich übersetzt, aber was ist mit mir?«
»Das weißt du ja schon sehr genau«, sagte er. »Hat Hannes dir das erklärt?«
»Ich brauche keinen Hannes, um mir das vorstellen zu können.«
Er fuhr sich in einer hilflosen Geste durch die Haare. »Du hast dich also schon entschieden, hierzubleiben? Ohne Rücksicht darauf, was dann aus uns wird? Hast du darüber mal nachgedacht?«
»Ich denke viel darüber nach«, versuchte ich ihm zu erklären. Vielleicht würde er mich verstehen, wenn ich auch deutlicher wurde. »Aber du hast mir auch nicht wirklich die Wahl gelassen, findest du nicht auch? Du kommst einfach nach Hause und informierst mich, was los ist, und ich darf mir dann einen Bildband ansehen, damit ich weiß, wo ich demnächst wohnen werde.«
»Ach, zum Teufel, Marie«, stieß er hervor und rannte in den Flur, wo er sich seine Jacke anzog und den Autoschlüssel vom Schränkchen nahm. Ich war ihm gerade noch rechtzeitig gefolgt, um es zu sehen.
»Wo willst du hin? Ich dachte, du bleibst zu Hause?«
»Dachte ich auch«, zischte er. »Aber unter diesen Umständen gehe ich lieber noch mal ins Büro. Rechne nicht zum Abendessen mit mir, ich fahre direkt zum Meeting.«
Er drehte sich um und schlug die Haustür hinter sich zu.
Ich stand zornbebend im Flur und wusste beinahenicht, wohin mit mir. Als er gekommen war, hatte ich mich ehrlich gefreut. Ich hatte mir Sorgen gemacht wegen seiner Magenschmerzen und mir vorgestellt, wir könnten einen gemütlichen Nachmittag miteinander verbringen. Das würde ihm helfen zu entspannen, uns vielleicht die Chance geben, noch mal in Ruhe über alles zu reden, wieder etwas zusammenzufinden.
Pustekuchen. Genau das Gegenteil war passiert.
Wir hatten wieder mal Eiszeit. Henning kam extrem spät vom Clubmeeting nach Hause und ging kommentarlos ins Bett. Ich schlief im Gästezimmer. Der nächste Tag verging, ohne dass wir mehr als Kurzinformationen austauschten. »Ich bin zum Mittagessen nicht da.« – »Gut. Ist heute Abend irgendwas?« – »Ich hatte mich mit Hanno verabredet, um über die Benefizveranstaltung nächsten Monat zu sprechen.«
Ich fuhr nach Bredenscheid und lief ziellos durch die Stadt. Früher hatte ich es oft so eilig gehabt, dass ein kurzer Besuch im Schuhgeschäft fast wie gestohlene Zeit erschien, immer gab es irgendwelche Termine für Musikstunden oder Kieferorthopäden oder Elternsprechtage, aber ohne es zu merken, war ich dieser Phase entkommen und kam mir plötzlich ziemlich doof vor. Jetzt hätte ich die Zeit zum endlosen Shoppen, aber wozu? Mein Schrank war voll, mein Terminkalender vergleichsweise übersichtlich, was brauchte ich denn?
Das Kleiderstübchen war noch geschlossen. Durch das Schaufenster, das immer noch mit Schultüten geschmückt war, sah ich die umgeräumten Regale. Inzwischen sahen sie nicht mehr ganz so ordentlich aus. Daneben erkannte ich einen Kleiderständer, der so vollgehängt war, dass man vermutlich nichts mehr darauf verschieben konnte. Das würde ich auf jeden Fall ändern, wenn ich …
Hör auf, sagte ich zu mir selbst. Plane jetzt nichts, bevor du nicht weißt, wie es mit dir weitergeht.
Ich dachte an unsere anstehende Amerikareise. Gar nicht mehr lange hin. Ob ich bis dahin wieder eine Art Frieden mit meinem Mann hinkriegen würde? Oder würden wir sieben Stunden höflich schweigend nebeneinander im Flugzeug sitzen? Immerhin konnte ich mich in Boston halbwegs verständigen,
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