Alles auf Anfang Marie - Roman
schon Stress?«, fragte Henning mich nachdenklich. »Ich hab dieses erste Jahr noch so problemlos in Erinnerung.«
»Wir haben auch nicht direkt zusammengewohnt.«
»Stimmt«, sagte er. »Ich habe mich immer darauf gefreut, dich zu sehen.«
Ich mich auch, das wusste ich noch. Und ein bisschen davon war wieder aufgelebt, als Henning nach Hannover ging. Wiedersehen nach ein paar Tagen der Trennung sind nicht übel. Eigentlich hatte es bisher so gut geklappt. Aber nichts ist für immer, das weiß man ja.
Gegen halb sieben deckte ich den Tisch zum Abendessen und sagte Christoph Bescheid. Wir machten Smalltalk, fragten ihn aber bewusst nicht nach Jana oder warum er so plötzlich und unangekündigt nach Hause gekommen war. Nach dem Essen ging er rasch wieder nach oben, immer noch mit dem Telefon, und als es kurz nach Beginn der Tagesschau wieder klingelte, sagte Henning mit einem Grinsen zu mir: »Es wär wohl einfacher gewesen, er wäre dageblieben.«
Aber Christoph kam kurze Zeit später lachend und mit dem Hörer noch am Ohr ins Wohnzimmer. »Alles klar, Speedy«, sagte er. »Mach das. Ruf ruhig die Polizei an und erzähl denen das.«
Er drückte den Aus-Knopf und legte das Telefon wieder auf die Station. »Das war vielleicht ein lustiger Vogel«, sagte er heiter. »Hat mir erzählt, seine Mama wäre von der Couch gefallen und weint jetzt. Leute gibt’s!«
Das besaß fürwahr eine gewisse Komik, aber irgendwas daran beunruhigte mich. »Wieso hast du Speedy zu ihm gesagt?«
»Na, der hat sich als Gonzalez gemeldet, das kam mir gleich total Banane vor. Aber er machte das sehr überzeugend, ein richtiger kleiner Schauspieler.«
Speedy Gonzalez? Dessen Mama von der Couch gefallen war? Henning und ich sahen uns an. »Da ist was passiert«, sagte ich und griff nach dem Telefon.
Christoph hörte auf zu lachen. »Wie jetzt?«, sagte er. »Ihr kennt den? Das war kein Unsinn?«
»Vielleicht nicht«, sagte Henning und beobachtete aufmerksam, wie ich im Telefonbuch nach Nowakowski suchte, denn angenommene Anrufe zeigt unser Telefon nachträglich nicht mehr an. Tatsächlich fand ich einen Eintrag für Nicole und wählte die Nummer.
Es klingelte vier Mal, bis eine zaghafte Stimme sagte: »Hallo?«
»Gonzalez?«, rief ich. »Hier ist Marie Overbeck. Ist was passiert?«
»Die Mama liegt hier auf dem Boden und heult«, jammerte er. »Aber ich weiß nicht, was sie hat.«
»Kannst du sie mir mal geben?«
»Ich versuch’s.«
Schon jetzt hörte ich erschreckende Klagelaute, aber wenig zusammenhängenden Text. »Nicole?«, rief ich beunruhigt. »Was ist los?«
Ich hörte sie jammern, verstand aber nichts. Und dann sagte Gonzalez: »Sie macht immer die Augen zu.«
»Ich komme rüber!«, rief ich. »Und ich rufe den Rettungswagen. Ich bin gleich da.«
Ich legte auf und wählte die 112. Henning und Christoph sahen mich beide fragend an, während ich einen Krankenwagen in den Hammerweg 35 bestellte. »Ich weiß nicht genau, was da los ist«, erklärte ich dem Vermittler. »Aber da sind drei Kinder und eine schwangere Frau, und ich mache mir Sorgen, dass etwas passiert ist.«
»Da hat gerade ein Kind von derselben Adresse angerufen«, sagte der Vermittler. »Ein Wagen ist schon unterwegs.«
Ich beendete das Gespräch und hielt Ausschau nach meinen Schuhen. »Ich muss sofort dahin«, sagte ich.
»Ich komme mit«, sagte Henning. »Da lasse ich dich nicht allein hinfahren. Vielleicht ist dieser Kerl da.«
»Und wieso ruft der dann nicht die Rettung?«, schimpfte ich.
»Kann mir mal einer erklären, was hier los ist?«, bat Christoph mit ratlosem Gesicht.
»Später«, sagte Henning. »Das ist etwas komplizierter. Die Zweitfamilie deiner Mutter hat offensichtlich ein Problem.« Er stand schon im Flur und schwenkte seinen Autoschlüssel. »Komm, Marie, ich fahre.«
»Noch nicht«, sagte Christoph. »Erst muss ich mein Auto aus der Einfahrt setzen.«
Ich rechnete Henning hoch an, wie ruhig er blieb. Er regte sich weder darüber auf, dass Christoph mal wieder gegen alle früheren Absprachen seinen Wagen vor der Garage abgestellt hatte, noch hielt er mir Vorträge zum Thema »Familie Nowakowski«, und überhaupt war ich total froh, dass er in diesem Moment die Führungsrolle übernahm, denn ich war schon ziemlich aufgeregt. Aber vielleicht ist das eine typische Eigenschaft von Managern, dass sie im Ernstfall die Ruhe bewahren und damit auch andere beruhigen können.
Und ich war sehr beunruhigt. Schließlich war ich es
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