Alles auf Anfang Marie - Roman
sie etwas entgegengenommen hat, wartet sie zehn Minuten, um ihm etwas Zeit für dringende persönliche Erledigungen zu lassen (z. B. Schuhe ausziehen oder zur Toilette gehen), dann kommt sie rüber. Die Gebühr für diesen Service ist je nach Tageszeit eine Tasse Kaffee oder ein Schnäpschen und mindestens eine Viertelstunde Zeit für ein persönliches Gespräch.
Heute war also ich dran. Sie reichte mir die Päckchen – beide für Henning, so dass ich gar nichts davon hatte – und wanderte ungefragt in die Küche zu ihrem Stammplatz. Ich legte die Post beiseite und setzte Kaffee auf.
»Was haben Sie denn mit dem Koffer vor?«, wollte sie wissen.
Nicht dass der in der Küche stand, den hatte ich längst nach oben getragen. Sie hatte ihn gesehen, als ich nach Hause kam und ihn aus dem Auto holte. Ich hatte mirschon vor langer Zeit abgewöhnt, mich über so was aufzuregen. »Henning und ich fliegen nach Amerika.«
»Amerika!«, staunte sie. »Aber ihr wollt doch nicht auswandern, oder?«
Schwierige Frage. Wenn Henning mir angeboten hätte, für zwei, drei Jahre in den USA zu leben, hätte ich vermutlich nicht solche Probleme. Klar, es wäre auch ein großer Schritt und nicht einfach, aber doch nicht vergleichbar mit China …
Aber das würde ich auf keinen Fall mit Frau Reuss diskutieren. Da könnte ich gleich eine Werbetafel vor unserem Haus aufstellen mit der Aufschrift »Wir gehen nach China – wer ist dafür und wer dagegen?«. Stattdessen lachte ich und sagte: »Ich glaube, dann kämen wir mit einem Koffer nicht hin. Da müsste es doch wohl eher ein Überseecontainer sein.«
»Na ja, ich dachte nur … Weil Sie in letzter Zeit so viel Wäsche hatten, dabei ist Ihr Sohn doch auch noch weggezogen.«
Jetzt war ich doch etwas baff. Immerhin habe ich keine Leine im Garten, sondern trockne den größten Teil meiner Wäsche elektrisch im Keller. »Was meinen Sie denn damit, Frau Reuss?«
»Ich sehe immer, wenn es aus Ihrem Kellerfenster dampft.«
Ob sie wohl auch unseren Müll kontrollierte? »Wissen Sie, ich habe nur einer Bekannten ausgeholfen, weil ihre Waschmaschine nicht funktionierte.«
»Das ist aber nett von Ihnen. Nicht nur wegen der Arbeit, da geht ja auch ganz schön was an Strom und Wasser durch. Immerhin waschen Sie auch nachts, das soll ja gut sein für die Umwelt.«
Wieso denn das? Ich hatte mich ehrlich gesagt noch nicht so intensiv damit beschäftigt. Bisher war ich derMeinung gewesen, wir könnten uns einige Maschinen Wäsche pro Woche leisten, und auch Henning hatte sich noch nicht wegen der Stadtwerke-Rechnung beschwert. Aber das war wieder so eine Sache … Vielleicht musste ich das mal tun? Mich mehr mit Themen wie Energiesparen und Ökologie befassen? Wäre das eine lohnenswerte Aufgabe?
Ich stellte den Kaffee auf den Tisch und ein paar Kekse. Seit Christoph ausgezogen war, hielten unsere Kekse deutlich länger. Wenn wir mehr bei Amazon bestellen würden und Frau Reuss häufiger käme, würde sich das wieder ausgleichen. Sie machte sich über die Schale her, als wäre sie mit einer afrikanischen Wanderheuschrecke verwandt.
»Haben Sie schon gehört, dass die Möllers sich getrennt haben?«
»Die aus dem Rotkehlchenweg?«
»Genau. Sie hat einen anderen.«
»Was Sie nicht sagen!« Ich kannte Frau Möller nur flüchtig, aber sie musste ungefähr in meinem Alter sein. Unsere Kinder waren etwa gleichzeitig in die Grundschule gegangen, aber nie in dieselben Klassen.
»Frau Schlettner sagt, sie ist jetzt mit einem von den Schmitz-Brüdern zusammen, aber nicht mit dem, der die Friseuse hat. Der andere, so ein Großer, Dünner. War mal Schützenkönig vor ein paar Jahren.«
»Friedbert Schmitz?« Mit dem hatte Henning früher zusammengearbeitet, bevor er nach Hannover ging.
»Kann sein«, nuschelte Frau Reuss um ihren Keks herum. »Und Herr Möller will jetzt das Haus verkaufen. Frau Schlettner meint allerdings, er muss sich damit beeilen, sonst wird das k zum s, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Ich wusste es nicht, bis sie eine eindeutige Bewegungmachte, so als kippe sie einen Schnaps. Versaufen statt verkaufen. Das war die Art von Humor, die unsere Nachbarschaft liebte.
In dieser Form ging es noch eine Weile weiter, bis Frau Reuss endlich beschloss, wieder nach Hause zu gehen. Mittlerweile war es fünf Uhr geworden. Ich räumte das Kaffeegeschirr und die leere Keksschale in die Spülmaschine. Es erschreckte mich, dass ich den ganzen Tag nichts wirklich
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